„Deutsche Atomkritik ist nicht irrational“

Haben die Deutschen eine Öko-Macke? Wollen wir deshalb als einziges Land möglich schnell alle AKW abschalten? Professor Udo Kukartz sieht einen Grund für die besondere deutsche Atomkritik im ausgeprägten Bedürfnis nach politischer Mitentscheidung

Hannes Koch: Die Katastrophe von Fukushima hat in Deutschland eine neue Debatte über den schnellen Atomausstieg ausgelöst. In den meisten anderen Ländern, die ebenfalls Atomkraftwerke betreiben, scheint das nicht so zu sein. Reagieren die Deutschen sensibler als andere Nationen?

Udo Kukartz: Die aktuelle atomkritische Stimmung in Deutschland hat einen langen Vorlauf. Der Anteil der Menschen, die die Atomkraft ablehnen, war hierzulande schon immer größer als beispielsweise in Frankreich. Im vergangenen Jahr plädierten gut 30 Prozent der Deutschen für einen schnelleren Ausstieg, als ihn Rot-Grün beschlossen hatte. Nur zehn Prozent wollten die Kraftwerke länger laufen lassen.

Koch: Keine andere Regierung hat von einem Tag auf den anderen ein Drittel der Atomkraftwerke abschalten lassen. Trug Kanzlerin Merkel damit den besonderen Sorgen der Deutschen Rechnung?

Kukartz: Zu spät – diese Stimmung hätte die Kanzlerin bereits 2010 kennen können, als sie die Laufzeit der AKW verlängerte. Nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung stand hinter dieser höchst riskanten Abkehr vom Rot-Grünen Atomausstieg. Denn auch die konservative Klientel – mit Ausnahme der FDP – ist seit langem von grünem Gedankengut durchdrungen. Das Umweltbewusstsein der Deutschen kommt mir vor wie ein schlafender Bär. Man muss ihn nur anstoßen, dann wacht er auf und brummt.

Koch: Am 26. April jährt sich zum 25. Mal der Unfall im AKW Tschernobyl. Waren die Deutschen auch damals schon aufgeregter als beispielsweise die Polen, Österreicher oder Schweden?

Kukartz: Das war auch vor 25 Jahren schon so. Damals stand die Umwelt in der Hierarchie der Sorgen auf Platz Nummer Eins – vor Arbeitslosigkeit und allen anderen Fragen. Erst durch den Fall der Mauer änderte sich diese Reihenfolge wieder.

Koch: Saurer Regen, Waldsterben, Mülltrennung, Atom – hierzulande wurden in den vergangenen Jahrzehnten große Debatten über Umweltprobleme geführt. Haben sich die Deutschen um diese Themen früher gekümmert als die Menschen in anderen Ländern?

Kukartz: Im europäischen Vergleich ja. Aber die Umweltbewegung in den USA ist älter als die deutsche. In Amerika begann die Debatte schon 1962 mit dem Buch „Silent Spring“, in dem Rachel Carson den Einsatz von Insektenvernichtungsmitteln anprangerte. Das Thema gewann dort schnell an Dynamik, weil viele, auch konservative US-Bürger im Naturschutz aktiv waren.

Koch: Welches war das treibende Motiv, als in den 1970er Jahren die deutsche Öko-Bewegung entstand?

Kukartz: Anders als in den USA ist die hiesige Umweltbewegung überwiegend links inspiriert. Sie entstand als Ausläufer von 1968. Die Kritik am Kapitalismus mag ein Grund dafür sein, dass hier die großen Unternehmen, und damit auch die Atomkonzerne unter besonderer Beobachtung stehen. Außerdem haben die Deutschen im Vergleich zu unseren Nachbarländern insgesamt ein stärkeres Bedürfnis, bei politischen Entscheidungen mitzureden. Umfragen zeigen uns, dass der demokratische Gedanke der Partizipation hier weit verbreitet ist.

Koch: Vor 220 Jahren köpften die Franzosen ihren König. Hier hatten es Revolutionäre dagegen schwerer. Deshalb sagt man dem deutschen Bürgertum einen auf Enttäuschung basierenden Hang zur Innerlichkeit nach. Könnte das eine Wurzel übertriebener Schwärmerei für die Natur sein?

Kukartz: Historisch ist ein solcher Erklärungsansatz durchaus plausibel. Und auch in zeitgenössischen Umfragen lassen sich Motive nachweisen, die man als Folge dieser geschichtlichen Entwicklung deuten kann. Viele Deutsche haben beispielsweise ein sehr harmonisches Bild von der Natur und dem Zusammenleben der Tiere.

Koch: Sind wir also Öko-Romantiker und als solche möglicherweise übertrieben ängstlich, was die Atomkraft betrifft?

Kukartz: Es fällt mir schwer, dies zu behaupten. Trägt nicht eher der Glaube an die Technik, die Hoffnung auf die Sicherheit der Atomkraftwerke, romantische Züge? Seit Tschernobyl und Ulrich Becks Buch „Risikogesellschaft“ wissen wir, warum man Atomkraftwerke nicht gegen Unfälle versichern kann. Wegen der möglichen unbezahlbaren und unkontrollierbaren Folgen erscheint mir die Forderung nach dem Atomaustieg sehr rational zu sein.

Koch: Wir sehen uns nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch als Umwelt-Weltmeister. Niemand hat so viel tolle Windräder wie wir. Stimmt diese Selbstwahrnehmung?

Kukartz: Nein. Da gibt eine ziemliche Lücke zwischen der Selbsteinschätzung und der Realität. Wenn Umweltschutz Geld kostet oder sie ihr persönliches Verhalten ändern müssten, schrecken viele Deutsche zurück. Beim ökologischen Konsum oder Energiesparen sind sie im europäischen Vergleich keine Vorbilder. Beispielsweise die Menschen in Skandinavien sind da konsequenter.

Bio-Kasten:

Udo Kukartz (60) erforscht unter anderem im Auftrag des Umweltbundesamtes die Einstellung der Deutschen zur Ökologie. Er ist Professor am Fachbereich für Erziehungswissenschaften der Universität Marburg.