Kein Kernkraftwerk erreicht die höchste Sicherheitsstufe in allen wichtigen Punkten. Gutachten der Reaktorsicherheitskommission im Auftrag der Bundesregierung. Für einige alte AKW ist das Aus damit wohl besiegelt
Ein Atomunfall wie im japanischen Fukushima ist in Deutschland nicht zu erwarten, sagen die Ingenieure, Physiker und Experten der Reaktorsicherheitskommission. Nicht nur, weil hier keine Monsterwellen mit derartiger Zerstörungskraft aufträten, sondern wegen der vergleichsweise soliden technischen Schutzmaßnahmen an deutschen Kernkraftwerken. Das ist eine der positiven Botschaften, die der Chef der Kommission, Rudolf Wieland, am Dienstag Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) überbrachte.
Die Bundesregierung hatte die RSK Ende März beauftragt, die Sicherheit der 17 hiesigen Atomkraftwerke vor dem Hintergrund der Katastrophe in Japan neu zu bewerten. Bis Ende Juni will die Bundesregierung klären, wie schnell die Atomkraft in Deutschland durch andere Energieträger ersetzt werden kann. Sieben AKW sind seit dem Unfall von Fukushima abgeschaltet, weil der Regierung das Betriebsrisiko zu groß war.
Im Bericht, der gestern veröffentlicht wurde, steht aber auch: Keines der deutschen AKW erreicht in allen Bereichen die höchste Sicherheitsstufe. Defizite angesichts vorstellbarer Unfälle und Naturkatastrophen sind also bei allen Anlagen vorhanden. Manche weisen frappierende Mängel auf. Das Atomkraftwerk Unterweser bei Bremerhaven beispielsweise kommt sehr schlecht weg. Obwohl es am Fluss steht, ist es gegen Hochwasser kaum gesichert und erreicht nicht einmal die unterste von drei Sicherheitsstufen. Vier Anlagen – Biblis A und B, Brunsbüttel und Philippsburg 1 – sind nicht gegen den Absturz eines kleinen Militärflugzeugs gesichert. Auch sie verfehlen das unterste Sicherheitslevel.
Was aber machte der Umweltminister aus dem neuen Bericht? Er eierte herum. Einerseits bewertete Röttgen die Studie als Bestätigung der relativen Sicherheit deutscher AKW: „Es ist verantwortbar, nicht sofort aus der Kernkraft auszusteigen.“ Andererseits ließ der Minister jedoch auch durchblicken, dass die Zeit mancher alter Kraftwerke endgültig abläuft. Die Sicherheitsdefizite bezeichnete Röttgen als „Anknüpfungspunkt für die politische Entscheidung“.
Für jedes Kernkraftwerk hat die RSK verschiedene Risiko-Szenarien anhand verschärfter Kriterien überprüft. Im Hinblick auf den Schutz gegen Hochwasser kam beispielsweise heraus, dass drei Anlagen dem höchsten Sicherheitslevel 3 genügen: Biblis A, B und Emsland. Selbst gigantische Hochwasser könnten deren „vitale Funktionen“ nicht außer Kraft setzen. Zwei weitere – Isar 2 und Krümmel – rangieren in Level 2. Mit Hilfe zusätzlicher Pumpen und anderer Notfallmaßnahmen können sie starke Überflutungen überstehen. Isar 1 würde einem etwas niedrigeren Hochwasser standhalten und bekam deshalb Level 1. Alle anderen Kraftwerke könnten mindestens Level 1 erreichen, wenn die Unternehmen entsprechende Nachweise vorlegten, schreibt die Kommission.
So zeigen sich an diesem und anderen Punkten die Grenzen des Verfahrens. Den Wissenschaftlern und Technikern fehlte die Zeit, um alle Fragen ausreichend zu beantworten. Sechs Wochen seit Ende März reichten offenbar nicht aus.
Hinsichtlich der Gefahr von Flugzeugabstürzen und terroristischen Attacken wie am 11. September 2001 kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass kein Kernkraftwerk gegen einen sehr schweren Unfall ausreichend gewappnet sei. Prallte ein großes Verkehrsflugzeug wie eine vollbetankte Boeing 747 oder ein Airbus A380 in ein Atomkraftwerk, würden die Gebäude nicht standhalten und die Nottechnik ausfallen, weil das Kerosin aus den Flugzeugtanks verbrennte. Folglich stuften die Experten keine Anlage in die höchste Sicherheitsstufe 3 ein, zehn Kraftwerke bekamen Stufe 2, drei Stufe 1, vier schafften nicht einmal dieses Niveau. Auch hier blieben viele Fragen offen – besonders zum Problem des Kerosinbrandes.
Was die Versorgung der Reaktoren mit Notstrom im Falle einer Havarie betrifft, ist die Lage gemischt. Fünf Kraftwerke (Biblis A, B, Neckarwestheim 1, Isar 1, Krümmel) würden das unterste Level 1 nur erreichen, wenn die Betreiber weitere Unterlagen nachliefern. Gegenwärtig erscheint der Kommission nicht sicher, dass diese Blöcke mittels Notstrom vor einer Kernschmelze bewahrt werden könnten. Die übrigen Kraftwerke wurden in Sicherheitsstufe 2 einsortiert.
SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisierte die RSK-Studie als zu ungenau und wenig aussagekräftig. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin und die Umweltorganisation Greenpeace werteten sie als Grundlage zur Abschaltung der sieben ältesten Reaktoren.
Von der Sicherheitslage abgesehen, ergab die Präsentation der RSK-Studie eine interessante Zusatzinformation. Wie Röttgen bestätigte, ist gegenwärtig nur noch 33 Prozent der deutschen Atomkraft-Leistung am Netz. Die meisten Atomkraftwerke stehen still – vorübergehend abgeschaltet wegen technischer Risiken oder regulärer Wartung. Deutschland scheint diese Art der Stromproduktion ganz gut entbehren zu können.