„Wir brauchen die Währungsunion 2.0“

Aus „Angst vor den Stammtischen“ fehle der Bundesregierung der Mut, die Euro-Krise zu lösen, sagt Regierungsberater Peter Bofinger. Das Europa-Parlament solle über die nationalen Haushalte entscheiden

Hannes Koch: Herr Bofinger, wegen der Griechenland-Krise ist Europa für viele Bürger ein rotes Tuch. Was bedeutet die EU für Sie?

Peter Bofinger: Europa bildet das wichtigste Thema meines Berufslebens. Meinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz habe ich 1987 über die Währungsunion geschrieben. Ich finde das, was auf unserem Kontinent passiert, noch immer faszinierend. Die europäischen Staaten und Kulturen sind so vielfältig, und doch haben wir so viel gemeinsam. Genau das macht unsere gemeinsame Stärke aus.

Koch: Betrachten Sie die gegenwärtige Schuldenkrise mit Pessimismus oder auch etwas Hoffnung?

Bofinger: Ich bin enttäuscht. Es fehlt an europäischer Solidarität. Die nationalen Egoismen und kurzfristigen Eigeninteressen überwiegen.

Koch: Machen Sie diesen Vorwurf auch der Bundesregierung?

Bofinger: Ja, der Regierung fehlt der Mut. Sie stellt nicht konsequent in den Mittelpunkt, was Deutschlands eigentliches Motiv sein sollte: ein stabiles Europa mit einer funktionsfähigen Währungsunion. Beides sind Quellen unseres Wohlstandes. Frühere Kanzler haben anders gehandelt und sich weniger daran orientiert, was gerade populär war. Helmut Schmidt setzte sich für die Nachrüstung ein, Helmut Kohl für den Euro und Gerhard Schröder für die Sozialreformen.

Koch: Warum halten Kanzlerin Angela Merkel oder Bundespräsident Christian Wulff keine große Rede an die Bürger, in der sie für Europa werben?

Bofinger: Weil sie Angst haben vor den Stammtischen. Viele Bürger denken ja, die Griechen würden auf der faulen Haut liegen und unser Geld verprassen, während wir uns einschränken. Diese irrige Annahme verstärkt die Bundesregierung, indem sie das wachsende griechische Defizit betont. Stattdessen müssten Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble der deutschen Bevölkerung sagen, dass die griechische Regierung wirklich spart und versucht, das Ruder herumzureißen.

Koch: Aber die versprochenen Privatisierungen von Staatseigentum, die die griechischen Schulden reduzieren sollen, haben noch nicht einmal begonnen.

Bofinger: Man kann nicht ein ganzes Land innerhalb weniger Monate auf Kurs bringen. Das Modell „Pfandhaus“ funktioniert nicht. Wo sind denn die ausländischen Unternehmen, die in der jetzigen Krise Schlange stehen, um griechische Häfen oder Stromversorger zu kaufen? Außerdem wäre es ein Fehler, wenn die griechische Regierung auch noch die Betriebe veräußerte, die Einnahmen erwirtschaften.

Koch: Müsste uns die Bundesregierung reinen Wein einschenken und erklären, dass Europa doch teurer wird, als wir immer angenommen haben?

Bofinger: Wir stehen an einer Weggabelung. So wie die Währungsunion jetzt beschaffen ist, hat sie keine Zukunft. Entweder die europäischen Staaten kehren zurück zu ihren nationalen Währungen oder sie treiben die Integration voran. Auch ich habe früher unterschätzt, welches Maß an politischer Kooperation für das Funktionieren der Währungsunion offenbar notwendig ist.

Koch: Mit anderen Worten: Die Deutschen sollen mehr für andere Länder der Euro-Zone haften und zahlen?

Bofinger: Nein. Wir brauchen eine Währungsunion 2.0. Das heißt wir sollten ein gemeinsames europäisches Schatzamt gründen, das Staatsanleihen für die gesamte Euro-Zone herausgibt. Im Gegenzug dazu benötigen wir eine stärkere Kontrolle über die nationalen Haushalte. Sie könnte beispielsweise darin bestehen, dass Länder, deren Verschuldung 80 Prozent seiner Wirtschaftsleistung übersteigt, was etwa dem aktuellen deutschen Niveau entspricht, ihren Haushalt vom EU-Parlament genehmigen lassen müssen. Verstößt ein Staat gegen die Sparauflagen des Parlaments, sollte er die Euro-Zone in letzter Konsequenz auch verlassen.

Koch: Worin bestünde der Vorteil dieser europäischen Staatsanleihen?

Bofinger: Bei den Eurobonds der Mitgliedsländer gäbe keinen Unterschied mehr zwischen griechischen, italienischen oder auch deutschen Papieren. Die Investoren auf den Kapitalmärkten könnten nicht mehr unterscheiden, wem sie ihr Geld leihen. Damit wäre ihnen auch die Möglichkeit genommen, die Zinsen einzelner Länder in die Höhe zu treiben und gegen sie zu spekulieren. Auf diese Weise würde die Politik dafür sorgen, dass sie den Märkten gegenüber wieder das Heft das Handelns übernimmt. Insbesondere könnte man so verhindern, dass nicht bald auch noch Spanien und Italien in den Strudel der Schuldenkrise geraten.

Koch: Also doch: Deutschland zahlt. Weil wir mit unserer guten Bonität auch für schlechtere Schuldner wie Griechenland einstehen, würden die Zinsen der Euro-Anleihen höher liegen als die deutscher Papiere.

Bofinger: Für Deutschland würden die Kosten der Verschuldung kaum höher ausfallen als heute. Die einzige wirkliche Alternative zu Eurobonds sind US-Staatsanleihen, und im Vergleich dazu steht der Euroraum in jeder Hinsicht besser da. Insgesamt profitieren wir ohnehin sehr stark von der Währungsunion.

Koch: Das sagen ja fast alle. Aber stimmt das auch – ergeben die Kosten und der Nutzen Europas für Deutschland wirklich einen positiven Saldo?

Bofinger: Schauen Sie sich ein vergleichbares Beispiel an: Japan. Ähnlich wie bei uns erwirtschaften dort fleißige Menschen einen hohen Exportüberschuss. Doch ohne Währungsunion musste Japan viele ausländische Anleihen aufkaufen, insgesamt sind es derzeit über 1.000 Milliarden Dollar. Das haben die Japaner machen, um zu verhindern, dass der Wert ihrer eigenen Währung durch die Exporterfolge im Vergleich zum Dollar zu stark steigt. Ohne die kostspielige Stützung des Dollar wären die japanischen Produkte auf dem Weltmarkt so teuer, das man viel weniger davon verkaufen könnte. Was sagt uns das? Im Gegensatz zu Japan kann Deutschland in aller Ruhe nach Europa exportieren, ohne hunderte Milliarden dafür ausgeben zu müssen, den Wert der eigenen Währung niedrig zu halten. Die gemeinsame Währung erspart uns gigantische Kosten und erhöht unseren Wohlstand.

Koch: Kann man diesen Wohlstandseffekt durch den Euro auch beziffern?

Bofinger: Nein. Wir können schließlich nicht genau berechnen, wie die Entwicklung ohne den Euro verlaufen wäre. Es ist jedenfalls eine Illusion, auf eine Insel der Glückseligen mit der D-Mark zu hoffen und zu sagen: Oh, wie schön war Panama. Denn unter dem Strich profitiert Deutschland von Europa. Und selbst Griechenland zu retten, ist für uns die billigere Lösung als der Kollaps der Währungsunion.

Koch: Die europäischen Regierungen beschließen nun ein weiteres Rettungspaket mit neuen Krediten für Athen. Auch Finanzminister Schäuble sperrt sich gegen die Reduzierung der Schulden. Ist die Belastung Griechenlands nicht längst zu groß?

Bofinger: Das Land ist mit dem Anderthalbfachen seiner Wirtschaftsleistung verschuldet. Um diese Kredite zu bedienen, wären Einnahmeüberschüsse des Staates notwendig, die Griechenland in den kommenden Jahren realistischerweise kaum erreichen kann. Deshalb halte ich es für notwendig, die Schulden um etwa 40 Prozent zu verringern.

Koch: Auch deutsche Banken müssten dann den Wert der griechischen Anleihen in ihren Bilanzen entsprechend senken. Wäre das nicht der Auslöser der nächsten Rezession?

Bofinger: Das Volumen griechischer Anleihen bei deutschen Banken ist vergleichsweise gering. Die teilweise Abschreibung bedeutet deshalb keine große Gefahr. Im Auge behalten müssen wir aber den möglichen Domino-Effekt. Wenn Griechenland einen Teil seiner Schulden streicht, würden die Investoren befürchten, dass dies anderen Staaten ebenfalls droht. Auch hier aber würden die gemeinsamen europäischen Anleihen helfen.

Koch: Können Sie nachvollziehen, dass Europa angesichts solcher Probleme vielen Bürgern unüberschaubar und unkontrollierbar erscheint?

Bofinger: Absolut. Viele Mechanismen sind nur schwer nachzuvollziehen. Man könnte die Bürger aber mitnehmen, indem man Europa einfacher und demokratischer macht. Das EU-Parlament sollte mehr Kompetenzen erhalten und eine richtige europäische Regierung wählen. Dann wäre klarer, wo die Entscheidungen fallen.

Koch: Wie sieht Ihre Vision aus, um Europa wieder von einem Angst- zu einem Hoffnungsprojekt zu machen?

Bofinger: Vielleicht sollten wir die Vereinigten Staaten von Europa anvisieren. Das wird aber nur funktionieren, wenn wir Politiker an der Spitze haben, die die Bürger für Europa begeistern wollen und können. Allerdings darf Europa kein Superstaat werden, der alles entscheidet. Es sollte sehr viel mehr als bisher das Subsidiaritätsprinzip gelten: Was die Regionen oder Nationalstaaten selbst regeln können, sollten wir nicht nach Brüssel verlagern.

Peter Bofinger (56) ist Professor für Ökonomie an der Uni Würzburg und Mitglied im Sachverständigenrat für Wirtschaft, der die Regierung berät.