Wachstumszweig und doch Problemfall

Die Pflegewirtschaft über fehlende Fachkräfte besorgt / Junge Abgeordnete fordern Reformen

Die Pflege älterer Menschen wird zu einem immer wichtigeren Wachstumszweig. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) wird sich die Wertschöpfung aus der Versorgung gebrechlicher Menschen von fast 27 Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf 79 Milliarden Euro im Jahr 2050 erhöhen. Mit zunehmender Alterung wird es auch immer mehr Pflegebedürftige geben. Mitte des Jahrhundert rechnet das Institut mit gut vier Millionen Betroffenen. Heute sind es 2,4 Millionen. „Die Kosten könnten sich verdreifachen“, schätzt IW-Forscher Dominik Enste.

Die Beiträge steigen stark an

Mitte des letzten Jahrzehnts war ein Viertel der Bevölkerung älter als 60 Jahre. Mitte des Jahrhundert werden mehr als 40 Prozent in diese Altersklasse gehören. Die Zahl der über 90-jährigen verdreifacht sich in diesem Zeitraum, weil die Lebenserwartung steigt und die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach das Rentenalter erreichen. Die Entwicklung wird sich Enste zufolge ist stark steigenden Beitragssätzen für die Pflegeversicherung bemerkbar machen. Derzeit überweisen die Versicherten 1,95 Prozent ihres Bruttolohnes an die Kasse. Der Satz wird laut IW auf über vier Prozent anwachsen.

Jede Menge freie Stellen

Derzeit beschäftigen gemeinnützige und private Träger 970.000 Pflegekräfte. Das sind 100.000 mehr als in der Vorzeigebranche Maschinenbau. Rund 360.000 müssen in den nächsten zehn Jahren zusätzlich eingestellt werden. Doch das ist ein gewaltiges Problem, weil es an Personal mangelt. Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) spricht von derzeit 30.000 offenen Stellen. Besonders in den Ballungsgebieten müssen Heime mitunter sogar Abteilungen schließen, weil die Pflegekräfte fehlen. „Wenn wir die Situation noch lange so laufen lassen, erleben wir ein Desaster“, warnt bpa-Chef Bernd Meurer. Mittlerweile würden vereinzelt sogar schon Handgelder von 3.000 Euro bezahlt, damit jemand einen Arbeitsvertrag unterzeichnet.

Ausländische Pflegekräfte sollen ins Land kommen

Der Verband fordert von der Politik Reformen, damit der Personalbedarf leichter gedeckt werden kann. Insbesondere sollen Berufsausbildungen anderer europäischer Länder leichter anerkannt werden. Auch verkürzte Ausbildungszeiten für Umschulungen aus verwandten Berufen wie der Arzthelferin oder die Wiedereingliederung von Müttern nach den Erziehungsjahren könnten das Personalproblem lindern. Stattdessen entdeckt Meurer ein neues Hindernis für die Pflegeberufe. Die EU wollen dafür eine zwölfjährige Schulausbildung vorschreiben, berichtet er und findet das „völligen Irrsinn“.

Jungpolitiker wollen private Zusatzversicherung

Die Bundesregierung will im Herbst eine Pflegereform angehen. Dabei geht es unter anderem um den Aufbau einer zusätzlichen privaten Pflegeversicherung. Anscheinend will die Koalition die Reform vertagen. Das bringt junge Unionsabgeordnete auf die Barrikaden. In einem jetzt veröffentlichten Thesenpapier fordern sie die Bildung einer ergänzenden Kapitalrücklage für die Pflegekosten der Zukunft. Wer dafür wie viel bezahlen soll, lassen die Politiker offen. Aus der Rücklage sollen die Pflegekosten für die Generation der Babyboomer finanziert werden, von denen viele zwischen 2030 und 2050 Hilfe beanspruchen werden. „Denn dann müssen insgesamt höhere Leistungsansprüche von immer weniger jüngeren Menschen finanziert werden“, warnen die Abgeordneten.

Bis zu 100.000 Euro Zuzahlung für Hilfsbedürftige

Tatsächlich ist Pflege teuer. Im Durchschnitt kostet eine Vollzeitpflege im Heim 3.300 Euro. Die Pflegeversicherung übernimmt höchstens 1.510 Euro. Den Rest müssen die Betroffenen selbst aufbringen. Das macht 1.790 Euro im Monat. Das können sich viele Rentner nicht leisten. Entweder müssen dann die Kinder die Rechnung bezahlen, oder die Kommune über die Sozialhilfe. Bei einem Pflegezeitraum von bis zu fünf Jahren kommt so ein Eigenbeitrag von gut 100.000 Euro zusammen. Dafür sollen die Deutschen schon frühzeitig vorsorgen, finden die Abgeordneten.