Europa wird führend sein in der „dritten industriellen Revolution“, sagt Jeremy Rifkin
Hannes Koch: Herr Rifkin, in Ihrem neuen Buch über die „dritte industrielle Revolution“ schreiben Sie, Europa und besonders Deutschland könnten die Welt in ein neues Zeitalter führen. Wie das? In der gegenwärtigen Schuldenkrise droht Europa eher zu zerfallen, als eine globale Führungsrolle zu übernehmen.
Jeremy Rifkin: Genau darüber habe ich mit Ihrer Kanzlerin Angela Merkel kürzlich gesprochen. Trotz allem kann Deutschland führend sein bei der Energierevolution. Zwar ist es richtig, dass Ihr Land jetzt sparen muss, um die öffentlichen Schulden zu reduzieren. Aber parallel brauchen Sie auch eine kraftvolle ökonomische Vision, um die Wirtschaft zukunftsfähig zu machen.
Koch: Die industrielle Revolution, die Sie entwerfen, basiert auf dem flächendeckenden Ausbau der erneuerbaren Energien. Hinzu käme eine neue grenzüberschreitende Infrastruktur für die Speicherung und Verteilung grünen Stroms. Dies erfordert gigantische Investitionen. Woher soll das Geld kommen, wenn die Staaten kürzer treten müssen?
Rifkin. Finanzmittel sind grundsätzlich in ausreichender Menge vorhanden – bei den Unternehmen, Investmentfonds und Risikokapitalgebern. Auch die Regierungen in Europa verfügen trotz allem über viel Geld, nur geben sie es teilweise für die falschen Zecke aus. Wir dürfen nicht weiter in die alte Infrastruktur investieren, sondern müssen eine neue aufbauen. Das kann man in Berlin machen, das kann man in Potsdam tun. Stattet die öffentlichen und privaten Gebäude mit Blockheizkraftwerken und Sonnenkollektoren aus! Stellt die öffentliche Straßenbeleuchtung in Potsdam auf energiesparende LED-Lampen um! Durch die Kostenreduktion kann man die Investitionen finanzieren.
Koch: In chinesischen Städten rollen schon heute tausende Elektrofahrzeuge, in Deutschland sieht man fast keine. Ein großer Teil der Solarkraftwerke wird mittlerweile in Asien hergestellt. Wo sehen Sie noch eine deutsche oder europäische Führerschaft?
Rifkin: Europa bildet den größten, einheitlichen und wohlhabensten Markt der Welt. In der EU leben 500 Millionen Menschen. Nirgendwo sind die Voraussetzungen so gut wie hier, um das Energie-Internet aufzubauen. Und Deutschland spielt dabei eine aussichtsreiche Rolle. Rund 20 Prozent des deutschen Stroms stammen mittlerweile aus erneuerbaren Energien. So weit vorgedrungen ist kaum ein anderes Land.
Koch: Woraus besteht das Energie-Internet?
Rifkin: Wir haben fünf Säulen identifiziert. Säule Eins ist die Produktion sauberer Energie aus Wind, Sonne und anderen erneuerbaren Quellen, um Uran, Erdöl und Kohle zu ersetzen. Zweitens sieht man heute schon den Trend, dass sich die Energieherstellung dezentralisiert. Potenziell ist jedes Gebäude ein eigenes Kraftwerk, die Bedeutung der alten Großanlagen nimmt ab. Weil aber die regenerative Energie oftmals vom Wetter abhängt und unregelmäßig anfällt, braucht man drittens neue Energiespeicher. Wasserstoff könnte hier das entscheidende Medium sein. Säule Vier: Das intelligente Stromnetz, welches hunderttausende Stromproduzenten und Verbraucher so miteinander verknüpft, dass sich Energieangebot und Nachfrage ausgleichen. In Deutschland wird dieses Energie-Internet bereits an acht Orten getestet. Und fünftens: Hier wurde das Auto erfunden. Warum sollten Ihre Unternehmen nicht auch führend werden bei den Elektroautos der Zukunft, die ohne Öl fahren? Wenn man alle fünf Säulen heute gemeinsam betrachtet, liegt Deutschland eindeutig vorne.
Koch: In Ihrem Buch sagen Sie, Sie wollten ein Narrativ präsentieren. Sie erzählen eine Story, von der Sie hoffen, dass sie Wirklichkeit wird.
Rifkin: Zusammen mit vielen Kollegen analysieren wir permanent die Realität und leiten daraus ab, was möglich und notwendig ist. Wir erzählen eine Geschichte, aber die Menschen und Politiker müssen sie füllen. Mit unseren Forschungen haben wir einen Businessplan entwickelt, der plausibel und umsetzbar erscheint.
Koch: Was macht Sie so sicher, dass die Erneuerbaren Energien das Rückgrat eines zukünftigen Wirtschaftssystems bilden können?
Rifkin: Erstens der Klimawandel, den wir mit unserer bisherigen Form der Energieproduktion katastrophal beschleunigen werden. Das kann niemand wollen. Zweitens der Ölpreis. Er liegt um die 100 Dollar pro Fass und wird weiter steigen, je knapper und schwieriger die Lagerstätten zu erreichen sind. Wir haben das Endspiel erreicht. Die Öl-Ökonomie ist nicht überlebensfähig. Wenn das globale Wirtschaftswachstum anzieht, steigt der Preis und würgt das Wachstum wieder ab. Diesem Teufelskreis sollten wir entkommen.
Koch: Vor 15 Jahren haben Sie vorhergesagt, die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie und den Dienstleistungen würden künftig stark abnehmen und die Arbeitslosigkeit immer weiter steigen. Diese These hat sich offenbar als falsch erwiesen: In Deutschland arbeiten mehr Menschen denn je.
Rifkin: Ihr Land profitiert von seiner speziellen Situation als Exportnation. Generell muss man aber sagen, dass wir die letzte Phase der Massenlohnarbeit erleben. In den vergangenen sieben Jahren sind 15 Prozent der Produktionsarbeitsplätze auf der Welt verschwunden. Warum? Weil wir mit immer weniger Menschen und besseren Maschinen mehr Güter herstellen. Das nennt man Produktivitätssteigerung. Und dieser Prozess wird sich verstärken. Auch vor den öffentlichen und privaten Dienstleistungen macht er nicht halt.
Koch: Nach Auskunft der Internationalen Arbeitsorganisation ist die Zahl der Erwerbstätigen weltweit zwischen 2000 und 2010 von 2,6 Milliarden auf über drei Milliarden Beschäftigte gestiegen. Die globale Arbeitslosigkeit ist währenddessen bei etwa sechs Prozent mehr oder weniger stabil geblieben. Ist Ihre These noch haltbar?
Rifkin: Der Anstieg, von dem sie sprechen, ist ein vorübergehender. Der Grund liegt darin, dass bevölkerungsreiche Länder wie China und Indien in den Weltmarkt eingetreten sind und anfangs sehr arbeitsintensiv produzieren. Diese Phase wird relativ schnell zu Ende sein. Jetzt schicken die Chinesen die Arbeiter aus den Städten bereits wieder auf´s Land zurück, weil es zu wenige Fabrikjobs gibt.
Koch: Es werden aber immer wieder neue Produkte entwickelt, für die die Unternehmen Fabriken und Arbeiter brauchen. Beispielsweise stellt der Foxconn-Konzern in China hunderttausende Beschäftigte ein, um die iPhones für Apple zu fertigen. Mit neuen Bedürfnissen und Jobmöglichkeiten kann man auch künftig rechnen. Deshalb erscheint die These vom Ende der Arbeit zumindest fragwürdig.
Rifkin: Moment! Ich sage, wir haben jetzt noch etwa 40 Jahre Zeit, um unser gegenwärtiges Arbeitssystem fit zu machen für die Zukunft. In dieser Zeit der dritten industriellen Revolution brauchen wir Millionen Beschäftigte, um die neue Energie-Infrastruktur zu bauen. Wenn wir diesen Übergang aber erst geschafft haben, geht die industrielle Massenarbeit ihrem Ende entgegen. Dann reichen relativ wenige hochausgebildete Fachleute, um das Energie-Internet in Gang zu halten. Und die Produkte des täglichen Bedarfs kommen aus Fabriken, in denen ebenfalls kaum noch ein Mensch arbeitet. Die dritte wird also die letzte industrielle Revolution sein.
Koch: Das Ende der Geschichte wurde uns schon mehrfach angekündigt.
Rifkin: Davon rede ich nicht. Aber die Art, wie die Menschen arbeiten, wird später eine ganz andere sein. Der Markt spielt dann nicht mehr die dominierende Rolle. Ich glaube, es kommt die neue Zeit einer kooperativen Wirtschaft. Die Ökonomie könnte dann eher nach dem Wikipedia-Prinzip funktionieren – selbstständige Produzenten arbeiten in Netzwerken zusammen, ohne sich harte Konkurrenz zu machen wie heute. Ein großer Teil der Jobs wird in den zivilgesellschaftlichen Sektor wandern. Viel mehr Menschen als heute werden ihr Geld mit Kultur, Nachbarschaftshilfe und anderen sozialen Tätigkeiten verdienen.
Koch: Sind Sie optimistisch, dass es uns in den kommenden Jahrzehnten gelingt, einerseits Wirtschaftswachstum und Wohlstand aufrechtzuerhalten, andererseits dem Klimakollaps zu entgehen?
Rifkin: Nein, ich bin nicht optimistisch. Aber ich habe Hoffnung. Natürlich kann es passieren, dass alles daneben geht. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen. Es geht darum, die fünf Säulen der Energie-Revolution gleichzeitig zu bauen. Wenn wir nur an einer Stelle ansetzen, vergeuden wir Zeit und Geld. Gerade von Letzterem haben wir nicht mehr genug.
Jeremy Rifkin: Die Dritte Industrielle Revolution. Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter. Campus Verlag. Frankfurt/Main 2011. 303 Seiten, 24,99 €.
Bio-Kasten
Jeremy Rifkin
Ökonom und Zukunftsforscher Jeremy Rifkin (66) leitet die US-Stiftung für Wirtschaftliche Trends. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“ und „Die Wasserstoff-Revolution“. Er berät zahlreiche Regierungen und Unternehmen weltweit. Ihnen empfiehlt er, sich in Richtung einer umweltfreundlichen und sozialverträglichen Wirtschaftsweise zu bewegen. Dafür entwirft er Geschäftsmodelle.