Wie kann sich die Schulden-Krise weiterentwickeln? Es gibt mehrere Varianten
Die Schuldenkrise rast, die Politik entscheidet mühsam. Während der Bundestag am Donnerstag darüber beschließt, den Euro-Stabilisierungsfonds EFSF auf 440 Milliarden Euro aufzustocken, stehen schon wieder ganz andere Fragen auf der Tagesordnung. Reichen als Vorsorge noch Milliarden oder sollten die Staaten schon Billionen Euro einsetzen? Damit uns nicht schwindelig wird, ist es ratsam, einen Schritt zurückzutreten und die Situation mit etwas mehr Abstand zu betrachten. Welche grundsätzlichen Möglichkeiten haben wir eigentlich noch, um die Krise zu bewältigen? Unsere Zeitung analysiert vier Szenarien. Keines von ihnen wird in der komplexen Welt genau so eintreffen, aber die Vereinfachung zeigt das Wesentliche.
Szenario Eins: Die beste aller Welten.
Der Plan zur Stabilisierung Griechenlands funktioniert.
Bisher sieht das Konzept so aus: Die Regierungen der Euro-Zone und der EU, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds wollen Griechenland sanieren. Dazu ist es notwendig, die Schere zwischen zu hohen Staatsausgaben und zu niedrigen Einnahmen zu schließen. Die griechische Regierung hat eingewilligt. Beispielsweise kürzt sie die Gehälter und Renten staatlicher Angestellter und erhöht die Steuern. Im besten Fall muss die Regierung in Athen in zwei, drei Jahren keine neue Schulden mehr aufnehmen.
Die harte Politik im öffentlichen Sektor wird auch dazu führen, dass die Beschäftigten in Privatfirmen für die nächsten Jahre auf Lohnerhöhungen verzichten. Griechische Waren und Dienstleistungen werden insgesamt billiger – sowohl innerhalb der Landesgrenzen, als auch im Export. Der Effekt ist schon jetzt zu beobachten: 2011 buchten mehr Bundesbürger einen Urlaub in Griechenland, teilt der Deutsche Reiseverband mit. Wie beabsichtigt, überwindet das Mittelmeerland bald seine Rezession. Die Wirtschaft wächst wieder. Weil die Bevölkerung nach Monaten des Niedergangs die ersten hoffnungsvollen Zeichen sieht, ebben die Proteste in Athen und anderen Städten ab.
Die Staatseinnahmen steigen, und insgesamt sinkt die Verschuldung des Staates. Das freut die Geldgeber, die seit anderthalb Jahren das griechische Defizit finanzieren. Die Summen, die der Euro-Stabilisierungsfonds zur Verfügung hat, reichen. Weil der Sanierungsplan nicht nur in Griechenland, sondern auch in Portugal und Irland klappt, können sich die Staaten allmählich wieder Geld auf den internationalen Finanzmärkten leihen. Die Krise ist gestoppt.
Bewertung des Szenario Eins: unwahrscheinlich. Begründung: Die griechische Wirtschaft erholt sich nicht schnell genug.
Szenario Zwei: Die Transferunion
Der Schrecken nimmt kein Ende.
Vom ersten Szenario unterscheidet sich das zweite durch einen einfachen Umstand: Die optimistischen Erwartungen erfüllen sich nicht – zumindest nicht schnell genug. Unter anderem die Ökonomen David Bencek und Henning Klodt vom Institut für Weltwirtschaft der Uni Kiel haben ausgerechnet, dass Griechenland kaum aus den roten Zahlen herauskommen wird. Die Einnahmen Athens steigen nicht entsprechend, die Ausgaben bleiben zu hoch, die Schere lässt sich nicht schließen. Auch andere Staaten in vergleichbarer Lage hätten eine derartige Sanierung nicht geschafft, argumentieren die Kieler Ökonomen.
Die Bevölkerung in Griechenland sieht dementsprechend keinen Silberstreif am Horizont. Die Finanzbeamten, die selbst von Kürzungen betroffen sind, boykottieren alles. Die Straßenschlachten mit der Polizei nehmen kein Ende. Das Land ist paralysiert. Trotz aller Sparmaßnahmen steigen die Schulden weiter. Auch den Nachbarn im Norden bleibt diese Misere nicht verborgen: Die ohnehin geringe Unterstützung für die Euro-Stabilisierung in Deutschland schwindet, die Zahl der Kritiker im Bundestag wächst – auch bei SPD und Grünen.
Aber die Regierungen in Berlin und den anderen Euro-Staaten halten an ihrer bisherigen Linie fest. Weder will man Griechenland einen Teil seiner Schulden erlassen, noch hat man – mit Rücksicht auf die ablehnende Meinung der Bevölkerung – den Mut zu einer grundsätzlichen Lösung. Trotzdem kostet die erfolglose Stabilisierung, je länger sie dauert, immer mehr Geld. Gegen den Rat von Bundesbankpräsident Jens Weidmann willigen Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble schließlich ein, dass der Stabilisierungsfonds EFSF Kredite bei der Europäischen Zentralbank aufnehmen kann. Geschickt gelingt es der Bundesregierung, den Bundestag bei dieser Entscheidung zu umgehen.
Nun haben wir die Transferunion wirklich, vor der die Kritiker immer warnten: Ohne demokratische Zustimmung nährt man Schuldenmacherei mit zunehmenden Geldmengen. Prinzipiell kann der Fonds jetzt Billionen Euro ausgeben. Allmählich steigt deshalb die Inflation, der Euro verliert auch international an Wert. Die Verschuldung der Staaten aber bleibt, über Jahre wird die Krise nicht gelöst.
Bewertung des Szenario Zwei: Das kann durchaus passieren. Begründung: Die Politik tut, was sie am besten kann: Durchwursteln.
Szenario Drei: Die Reform-Union
Europa lernt aus der Krise.
Im September 2011 haben Merkel, Schäuble und die EU-Kommission eingesehen, dass es so nicht weitergeht. Hinzu kommt als entscheidender Faktor eine Verschiebung der internationalen Gewichte. Weil die Euro-Zone auf das Geld neureicher Staaten wie China und Brasilien angewiesen ist, gibt man deren drängenden Forderungen nach einer grundsätzlichen Lösung der Krise nach.
Zusammen mit der Gruppe der 20 mächtigsten Wirtschaftsnationen (G20) und dem Internationalen Währungsfonds verhandelt man zunächst einen Schuldenschnitt für Griechenland, wie ihn auch die deutschen Ökonomen Peter Bofinger und Rudolf Hickel befürworten. Von rund 370 Milliarden Euro werden die griechischen Staatsschulden auf die Hälfte reduziert. Der EFSF stellt den Privatbanken auch in Deutschland, die durch die jetzt wertlosen griechischen Staatsanleihen Geld verlieren, Ersatzkapital zur Verfügung. Für Portugal und Irland werden ähnliche Programme ausgearbeitet.
Nun aber rechnen die Investoren auf den internationalen Kapitalmärkten damit, dass auch Italien und Spanien einen Teil ihrer Schulden annulieren. Deshalb bekommen plötzlich auch diese Regierungen kein Geld mehr. Aber die Europäer haben vorgesorgt. An einem Sonntag Abend im Oktober 2011 erklären sie gemeinsam, dass die 17 Euro-Staaten künftig gemeinsame Staatsanleihen (Eurobonds) herausgeben, um die Spekulation gegen einzelne Länder zu unterbinden.
Damit die gemeinsame Verschuldung aber nicht in ein schwarzes Loch fließt, beschließt die EU, sich in den kommenden zwei Jahren eine neue Verfassung zu geben. Diese beinhaltet unter anderem die folgenden Elemente: Der Stabilitätspakt für den Euro wird so verschärft, dass zu hohe Verschuldung künftig automatisch bestraft wird. Damit will man Staatsdefizite im Griff behalten. Die Euro-Zone bekommt eine eigene Regierung samt Verwaltung. So soll verhindert werden, dass sich Schulden, Löhne und Staatsausgaben noch einmal so auseinanderentwickeln wie in der Vergangenheit. Um die skeptische Stimmung in der Bevölkerung zu beruhigen, erhält das EU-Parlament die volle Mitwirkung.
Auf der Basis des Pakets aus Schuldenschnitt, Eurobonds und Schuldenbremse fassen die internationalen Investoren wieder Vertrauen in den Euro. Die Lage normalisiert sich.
Bewertung des Szenario Drei: Man soll an das Gute glauben – es liegt im Rahmen des Möglichen. Begründung: Der internationale Druck auf Europa, endlich eine Lösung zu finden, nimmt zu.
Szenario Vier: Die Euro-Zone zerbricht.
Deutschland zahlt – aber richtig.
Die Euro-Zone zaudert weiter. Weder entschließt sie sich zur Entschuldung Griechenlands, noch entwickelt sie einen glaubwürdigen Mechanismus, das nötige Kapital zur Stabilisierung der verschuldeten Euro-Staaten zu beschaffen. Die Proteste in Griechenland nehmen stark zu. Um die explosive Lage zu entspannen, entscheidet sich die Regierung für den Austritt aus dem Euro und die Rückkehr zur alten Währung Drachme. Zwei Überlegungen stehen dahinter: Durch die Abwertung der Drachme werden die griechischen Waren billiger, die Wirtschaft soll sich erholen. Zweitens hofft die griechische Regierung, in internationalen Verhandlungen ihre Euro-Schulden zum größten Teil annulieren zu können.
Andere Krisen-Staaten gehen denselben Weg. Die Euro-Zone schrumpft auf ihren Kern. Übrig bleiben die finanzpolitisch einigermaßen soliden Staaten Deutschland, Österreich, Frankreich, die Niederlande, Luxemburg, Finnland und Estland. Als scheinbar sicheres Anlageobjekt erfreut sich der Euro bei internationalen Anlegern großer Beliebtheit. In der Folge steigt der Außenwert der Währung massiv. Die Deutschen können zwar nun in China produzierte iPhones billiger erwerben, aber die teuren deutschen Produkte verkaufen sich im Ausland viel schwerer. Volkswagen muss sein Ziel, vor Toyota größter Autokonzern der Welt zu werden, vorläufig begraben. In Wolfsburg werden die Werksferien verlängert, weil die Fahrzeuge auf Halde stehen. VW, BMW und Daimler verlagern einen weiteren Teil ihrer Produktion in die USA und nach China. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt wieder.
Die meisten international tätigen deutschen Banken stehen vor dem Kollaps. Sie müssen auf hunderte Milliarden Euro verzichten, weil die ausgetretenen Euro-Mitglieder ihre Schulden nicht bedienen. Finanzminister Schäuble schlägt dem Bundestag vor, den staatlichen Bankenrettungsfonds Soffin auf 900 Milliarden Euro aufzustocken. Die deutsche Gesamtverschuldung steigt auf 100 Prozent der Wirtschaftsleistung. Schäuble kündigt abermals ein Sparprogramm an, unter anderem will er fünf Milliarden Euro im Haushalt von Sozial- und Arbeitsministerin Ursula von der Leyen streichen.
Bewertung des Szenario Vier: Unwahrscheinlich. Begründung: Wirtschaftliche Weltmächte wie China stützen die Euro-Zone, weil sie kein Interesse an ihrem Zerfall haben.