Glauben oder zweifeln

Einen der schwierigsten Kontrolljobs der parlamentarischen Demokratie hat die G10-Kommission. Sie genehmigt oder verbietet den Geheimdiensten, Telefone abzuhören

Im ersten Kellergeschoss des Bundestages kann man den gemauerten Tunnel besichtigen, den die unbekannten Verursacher des Reichstagsbrandes von 1933 möglicherweise benutzten. Diese Ereignisse dienten den Nazis als Vorwand, um die Grundrechte außer Kraft zusetzen – auch das Telefongeheimnis.

Unweit des Tunnelrelikts, kurz vor der Kantine, gibt es eine dunkelgraue, zweiflügelige Stahltüre – gesichert von drei Schlössern und einer Gegensprechanlage. Das Türschild verbirgt mehr, als es erklärt. „Deutscher Bundestag Verwaltung“ ist darauf zu lesen. In dem Raum dahinter haben Mobiltelefone kein Netz und das Internet dringt nicht durch die abgeschotteten Wände. Nichts soll nach draußen gelangen, außer als Gedanken in den Köpfen der Mitglieder der Kommission, die alle paar Wochen hinter dieser Stahltüre tagt.

Den Raum von innen sehen nur wenige Abgesandte der Parteien, einige Mitarbeiter der Parlamentsverwaltung, ein paar höhere Beschäftigte von Ministerien und Kanzleramt, sowie Vertreter der drei deutschen Geheimdienste des Bundes – des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes.

Die Fachleute, die hier regelmäßig mit den Geheimen zusammensitzen, haben eine der schwierigsten Kontrollaufgaben, die die parlamentarische Demokratie bereithält. Alleine, bloß auf sich gestellt, sollen sie gewährleisten, dass die Geheimdienste nur die Computer und Telefone abhören, die sie laut Gesetz und Rechtsprechung auch abhören dürfen. G10-Kommission heißt dieses Kontrollorgan, benannt nach dem Gesetz, das den Grundgesetzartikel 10 auslegt. Dieser regelt, dass das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis grundsätzlich „unverletzlich“ sein soll – und beschreibt damit eines der wichtigen Grundrechte.

Wohlgemerkt: Die G10-Kommission prüft nur die Geheimdienste. Mit tausenden von Abhörmaßnahmen, die die Kriminalpolizei nach der Genehmigung durch die Gerichte durchführt, hat sie nichts zu tun. Wobei sich beide Ebenen – Polizei und Geheimdienste – gegenwärtig dafür rechtfertigen müssen, dass sie möglicherweise illegal so genannte Trojaner-Programmen auf privaten Computern installierten, um Internet-Kommunikation abzuhören.

Die G10-Kontrolleure, die keine Abgeordneten des Bundestages sein müssen, handeln als Repräsentanten der Bürger, und sind doch zugleich isoliert und einsam. Nur mit ihren Mitarbeitern und Kommissionskollegen reden sie über die Abhörfälle, die hinter der Stahltüre besprochen werden. Gegenüber dem Bundestag oder gar Außenstehenden dürfen sie kein Sterbenswörtchen darüber verlieren, welche Telefone die Dienste anzapfen, welche Fehler sie dabei machen und wieviele Bürger schuldlos in die Schnüffelei hineingeraten. Die Kontrolleure haben keine Unterstützer, weder Politiker, noch Medien oder die Öffentlichkeit. Darf man unter diesen Umständen überhaupt hoffen, dass die parlamentarische Kontrolle funktioniert? Oder ist zu befürchten, dass die Geheimdienste den Volksvertretern auf der Nase herumtanzen?

Einer der Kontrolleure ist Volker Neumann (69). Als langjähriger MdB der SPD leitete er um das Jahr 2000 den Untersuchungsausschuss zur CDU-Spendenaffäre. An einem Vormittag, an dem man noch in der Sonne vor dem Café Einstein Unter den Linden sitzen kann, steht er zum Gespräch zur Verfügung. Gerade ist er mit dem Zug aus der niedersächsischen Kleinstadt Bramsche angekommen, wo er als Rechtsanwalt und Notar arbeitet.

Neumann ist auskunftsbereit. Doch kaum kommt die Sprache auf konkrete Fälle, erklärt er: „Darüber darf ich Ihnen nichts sagen.“ Tatsächlich seien aus der G10-Kommission „noch nie“ verbotene Informationen nach außen gedrungen, so Neumann. Die Mitglieder hätten sich immer an die Schweigepflicht gehalten. Darauf ist er stolz – und weist daraufhin, dass das beim Parlamentarischen Kontrollgremium ja nicht immer so sei. Das PKGr ist die große Schwester der G10-Kommission. Diesen elf Abgeordneten obliegt die gesamte Kontrolle der Geheimdienste auch jenseits des begrenzten Bereichs der Abhörmaßnahmen, sie benennen die vier hauptamtlichen und vier stellvertretenden Mitglieder der G10-Kommission.

Die drei Geheimdienste dürfen nur dann Briefe öffnen, Telefone abhören oder Bankdaten abfragen, wenn alle anderen Recherchemethoden versagen, sie beispielsweise keine Auskunftsperson im Umkreis der Verdächtigen plazieren können. Dann durchsucht der Bundesnachrichtendienst (BND) Millionen Telefongespräche nach bestimmten Stichwörtern oder der Verfassungsschutz darf die Gespräche von einzelnen Telefonanschlüssen aufzeichnen.

Seit 2001 ist der absolute Schwerpunkt der militante Islamismus“, sagt Neumann. Beispiele: Das Bundesamt für Verfassungsschutz versuchte, der Hamburger Gruppe auf die Spur zu kommen, die die Anschläge vom 11. September plante. Oder der BND sammelt Informationen über vermeintliche Terroristen, die Angriffe auf Truppen in Afghanistan vorbereiten. Häufig geht es auch um Linke oder Rechte, von denen die Dienste glauben, dass jene die grundgesetzliche Ordnung bekämpften. Drogenhandel spielt ebenso eine Rolle.

Und wie muss man sich die allmonatlichen Sitzungen vorstellen? Hinter der Stahltür liegt ein Raum ohne Fenster. Dort versammeln sich 20 bis 30 Personen. Zuerst ist der BND mit seinen Anträgen dran. Pro Fall reichen meistens fünf Minuten. Bei neuen Suchoperationen unterhält man sich aber auch schon mal eine halbe Stunde, bis die Entscheidung fällt. Dann folgen die beiden anderen Dienste. Nach vier bis fünf Stunden hat die Kommission bis zu 70 Fälle durchgenommen – bei den meisten geht es um die Verlängerung der Abhörmaßnahmen, aber jedes Mal kommen auch ein paar neue Telefonnummern hinzu. In jüngster Zeit nimmt die Zahl zu. 2008 genehmigte die Kommission 110 neue Durchsuchungen, 2009 waren es 132 Fälle.

Dabei arbeitet die G10-Kommission ähnlich wie ein Gericht. „Vereinfacht ausgedrückt: Sagt die Kommission Ja zu einer Maßnahme, kann sie durchgeführt werden; sagt sie Nein, dann nicht. Somit darf bei einem Ja der Kommission abgehört werden, bei einem Nein nicht.“ So beschreibt es Kommissionsvorsitzender Hans de With (79), ehemaliger MdB der SPD und früherer Parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium.

Meistens stimmt die Kommission den Anträgen der Dienste zu. Eher selten lehnt sie das Abhören ab. Dies zeigt angeblich, dass die Geheimdienste das Telefongeheimnis nur dann brechen, wenn es juristisch auch wirklich gerechtfertigt erscheint.

Die befragten Kommissionsmitglieder der SPD und der Grünen erwecken den Eindruck, dass die Kontrolle überwiegend funktioniert. Neumann betont: „Die Dienste setzen sich nicht darüber hinweg, wenn die Kommission das Abhören untersagt.“ Bertold Huber, von den Grünen entsandter Verwaltungsrichter in Frankfurt/Main, ergänzt: „Wir haben in Deutschland ein relativ ausgefeiltes Kontrollsystem, und die Geheimdienste halten sich an die Gesetze. Dem entgegenstehende Verdachtsmomente gibt es nicht.“ Angeblich kommen die Geheimen mittlerweile auch größtenteils ihrer Pflicht nach, abgehörte Personen nach einer bestimmten Frist zu informieren – oder in Abstimmung mit der Kommission zumindest sehr gut zu begründen, warum dies nicht opportun ist. Gäbe es in allen diesen Fragen jedoch Probleme, würden es die Kontrolleure aber vermutlich auch nicht deutlich sagen – siehe Schweigepflicht.

An das Gute und die offizielle Lesart von der funktionierenden Kontrolle muss man glauben. Wissen kann man es nicht. Denn die Kontrolle der Geheimdienste ist ebenfalls zum guten Teil geheim. Sie muss es sein, sonst könnten die Agenten ihre verdeckten Aufgaben nicht erledigen. Ebenso wie die Arbeit der Geheimdienste an sich widerspricht die Tätigkeit der G10-Kommission dem demokratischen Gebot der Transparenz und öffentlichen Nachprüfbarkeit. Wer diesen Widerspruch auflösen wollte, müsste entweder die Kontrolle abschaffen oder die Geheimdienste.

Wer die Wirksamkeit der Kontrolle aber in Zweifel zieht, ist mangels genauer Informationen oft auf Mosaiksteinchen und Interpretationen angewiesen, die kein klares Bild ergeben. Etwa in diesem Fall: Nachdem der Chaos Computer Club Anfang Oktober 2011 an die Öffentlichkeit gegangen war, räumte unter anderem das Bayerische Landeskriminalamt ein, mit Trojaner-Programmen Internet-Telefonate auf den Computern verdächtiger Personen abgehört zu haben. Zudem gibt es Hinweise, dass auch die Geheimdienste des Bundes solche Programme eingesetzt und an Kollegen verteilt haben – obwohl es rechtlich umstritten ist, ob sie das tun dürfen.

Weil dem BND und dem Verfassungsschutz die Problematik bewusst ist, benutzen sie die Trojaner möglicherweise, ohne die Kommission vorher zu fragen. Das ist eine Vermutung. Träfe sie zu, würden die Geheimdienste die Kontrolle des Parlaments teilweise aushebeln. MdB Ulrich Maurer, der die Linke in der G10-Kommission vertritt, will sich „demnächst intensiv erkundigen“.