Eingelullt von der Wachstumsidee

Mit schöner Regelmäßigkeit geben die Bundesregierungen mehr Geld aus als sie einnehmen. Warum?

Es ist ein rätselhaftes Phänomen: Irgendeine wohlklingende Begründung für neue Staatsschulden findet sich immer. Da macht auch die schwarz-gelbe Bundesregierung in der Debatte über den Haushalt 2012, die am Dienstag begann, keine Ausnahme. Die aktuelle Erklärung lautet: Die Schuldenbremse wirkt bereits – wir sind auf gutem Wege, ab 2016 kaum noch zusätzliche Kredite aufzunehmen.

Bis dahin legt die Bundesregierung ein durchaus seltsames Haushaltsgebaren an den Tag. Trotz guter Wirtschaftsentwicklung und steigenden Steuereinnahmen nimmt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in diesem Jahr rund 22 Milliarden Euro Schulden auf. Er könnte mit weniger auskommen, wenn er wollte. Aber neue Ausgaben etwa für das Betreuungsgeld erscheinen wichtiger.

Für 2012 plant der Finanzminister sogar 26 Milliarden Euro zusätzlicher Kredite. Vielleicht braucht er tatsächlich weniger – aber er will sich einen Spielraum für weitere Ausgaben offenhalten. Die relative Großzügigkeit leistet er sich angesichts einer seit zwei Jahren anhaltenden Schuldenkrise, die die europäische Währung dem Abgrund nahebringt.

Diese Politik ist kein Ausrutscher. Hinter ihr steckt System. Seit den 1950er Jahren geben die Bundesregierungen mit schöner Regelmäßigkeit mehr Geld aus, als sie einnehmen. Die Schulden steigen permanent, und zwar meistens stärker als die Wirtschaftsleistung. Mittlerweile ist die Altlast auf über zwei 2.000 Milliarden Euro gewachsen und wird zur ernsthaften Gefahr – wobei viele andere Industrieländer ähnlich verfahren wie Deutschland.

Was könnte die Ursache dafür sein? „Demokratische Regierungen wollen ihren Wählern attraktive Pakete bieten“, so Ökonomie-Professor Jochen Hundsdoerfer. Das erhöhe ihre Aussichten, gewählt zu werden, sagt der Wissenschaftler der Freien Universität Berlin. Eng damit zusammen hängt der Einfluss starker Verbände: „Der Staat kann und will sich nicht gegen die mächtigen Lobbyinteressen durchsetzen“, sagt Barbara Riedmüller, Politik-Professorin der FU. Willfährigkeit bei Steuersenkungen, Subventionen oder Förderprogrammen trägt dazu bei, Einnahmen und Ausgaben aus dem Lot zu bringen.

Und warum verhindern die mündigen Bürger nicht, dass die Regierungen Jahr für Jahr über unsere Verhältnisse wirtschaften? Die Wähler könnten den Politikern ja auch sagen: Halt, gebt nur so viel aus wie Ihr einnehmt! Eine vordergründige Antwort lautet: Vielen Menschen liegt ihr gegenwärtiger Nutzen näher als die künftigen Kosten, die möglicherweise – man kann sie auch nur schwer ausrechnen – auf ihre Kinder und Enkel zukommen.

Ein tieferer Grund allerdings ist komplexer. Politologin Riedmüller: „Unsere Gesellschaft ist eingelullt von der Wachstumsphilosophie“. Im Kern unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung steckt der Glaube an den unentwegten Zuwachs. Wir nehmen an, dass uns künftiges Wachstum in die Lage versetzt, das Geld, das wir heute leihen, morgen leicht zurückzuzahlen.

Leider aber stottert der Motor. Von über drei Prozent in den 1970er Jahren sanken die Wachstumsraten unter ein Prozent jährlich in den 2000er Jahren. Das bedeutet: Die Summe der neuen Schulden, die Deutschland noch mühelos bedienen kann, nimmt ebenfalls ab. Damit aber reduziert sich auch der Verteilungsspielraum, der für politische Wohltaten zur Verfügung steht. Ökonom Hundsdoerfer sagt: „Wir alle müssen ein wenig bescheidener werden.“ Das ist ein Satz, der sich nicht nur an die Armen, sondern auch an die Mittelschicht und die Vermögenden richtet.

Info-Kasten

Mehr oder weniger sparen

Nach der Generaldebatte am Mittwoch wird der Bundestag am Freitag den Bundeshaushalt für 2012 beschließen. Vorgesehen sind Ausgaben in Höhe von 306,2 Milliarden Euro. Bis zu 26 Milliarden davon will Finanzminister Schäuble mit Krediten finanzieren. Vermutlich ist diese Zahl zu hoch gegriffen, und Schäuble wird 2012 mit neuen Schulden von deutlich weniger als 20 Milliarden auskommen. Das will er allerdings nicht im Haushaltsplan festschreiben, um einen finanzpolitischen Spielraum zu bewahren. SPD und Grüne werfen dem Finanzminister deshalb mangelnden Sparwillen vor.