Sozialwissenschaftler Miegel präsentiert fünf Indikatoren, um vom Bruttoinlandsprodukt loszukommen
Wer jung ist, möchte seinen materiellen Wohlstand erhöhen. Je älter die Menschen werden, desto eher sind sie aber zufrieden mit dem, was sie haben. Was heißt das für eine Gesellschaft wie die deutsche, die einen zunehmenden Anteil älterer Menschen aufweist? Die öffentlich verbreitete Wachstumsideologie bekomme zusätzliche Risse, meint Meinhard Miegel.
Der Sozialwissenschaftler aus Bonn macht sich seit Jahren Gedanken darüber, wie Industriegesellschaften der Fixierung auf materiellen Zuwachs entkommen und eher ihre Lebensqualität betrachten können. Gerne erzählt er, wie „abfällig“ schon der CDU-Heilige Ludwig Erhard, den Miegel noch persönlich kannte, über die „Wachstumsfetischisten“ sprach.
Nun hat Miegel sein „Wohlstandsquintett“ präsentiert – ein System von fünf Indikatoren, die die wirtschaftliche Entwicklung besser messen sollen als das Bruttoinlandsprodukt. Als Sachverständiger der Bundestagskommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ hofft Miegel, dass ein Maßstab wie der von ihm vorgeschlagene bald zur offiziellen Richtschnur auch der Bundesregierung werden könnte.
Der bisherige alleinige Indikator für wirtschaftlichen Fortschritt, das Bruttoinlandsprodukt, ist nur noch eine der Miegelschen Größen. Weil das BIP schlicht die quantitative Zunahme der Güterproduktion misst, ihre negativen Folgen aber ausblendet, betrachtet nicht nur Miegel es als ergänzungsbedürftig.
Hinzu kommt als zweite Größe der „ökologische Fußabdruck im Vergleich zur globalen Biokapazität“. Um den materiellen Wohlstand zu erwirtschaften, beanspruchen die Deutschen gegenwärtig die dreifache Menge der natürlichen Ressourcen, die ihnen bei fairer und umweltschonender Aufteilung unter den Erdenbürgern eigentlich zustünde, erklärt Miegels Kollegin Stefanie Wahl. Bei ehrlicher Berechnung der verursachten Schäden fällt unser materieller Wohlstand also viel geringer aus als bei einer isolierten Betrachtung des BIP.
Den dritten Posten des Quintetts bildet die 80-20-Relation. Damit setzt man die Summe der Einkommen der reichsten 20 Prozent ins Verhältnis zu den Mitteln der ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung. Deutschland liegt mit einer Relation von 4,5 unter dem EU-Durchschnitt von 5 und kann deshalb trotz aller Kritik noch als vergleichsweise sozial ausgewogen gelten. Der vierte Indikator belegt, wieviele Menschen sich als ausgrenzt empfinden. In Deutschland waren das 2010 zehn Prozent (EU: 16 Prozent).
Angesichts der Schuldenkrise hat Miegel schließlich noch die öffentliche Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung hinzugenommen. Dieser Indikator folgt der Logik, dass der materielle Zuwachs unter dem Strich aufgezehrt wird, wenn man ihn mit zu vielen Schulden erkauft, die in Zukunft wieder abgetragen werden müssen.
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Wachstum im Bundestag
Die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ kommt zu weitreichenden Erkenntnissen. Nach der Hälfte der Arbeitszeit, die insgesamt noch bis 2013 dauern soll, stellt Vorsitzende Daniela Kolbe (SPD) einen Konsens zur Relativierung des BIP als Messgröße für den wirtschaftlichen Fortschritt fest. Sie vermutet, dass die Kommissionsmitglieder aller fünf Parteien eine Ergänzung des Bruttoinlandsprodukts durch weitere Indikatoren empfehlen werden. Auch darüber hinaus ist einiges in Bewegung. So betrachtet Matthias Zimmer (CDU) materielles Wachstum „weniger als Ziel, eher als Mittel“. SPD, Linke und Grüne haben in ihrem Zwischenbericht formuliert, dass „geringere BIP-Wachstumsraten keine grundsätzliche Bedrohung für gesellschaftlichen und individuellen Wohlstand sind“. Dieses Papier wollen Union und FDP aber vorläufig nicht mittragen.