„Das Leben auf dem Land wird schlechter“

Mit der Demografie-Strategie setze sich die Regierung unerreichbare Ziele, sagt Experte Klingholz.

Hannes Koch: Unser Land wird leerer, die Bevölkerungszahl nimmt in den kommenden Jahrzehnten stark ab. Schlägt die Bundesregierung in ihrer Demografie-Strategie die richtigen Gegenmaßnahmen vor?

Reiner Klingholz: Gegen das Schrumpfen gibt es keine realistischen Maßnahmen. Bis 2050 wird unsere Bevölkerung um mindestens zwölf Millionen Menschen zurückgehen – selbst bei einer angenommenen Zuwanderung von 200.000 Personen unter dem Strich pro Jahr. Damit muss man sich abfinden.

Koch: Hat die Regierung die richtigen Antworten auf diese Herausforderung?

Klingholz: Die Bundesregierung setzt sich sehr hohe Ziele, die so nicht erreichbar sind. Sie strebt beispielsweise an, dass Deutschland auch künftig ein nennenswertes Wachstum erwirtschaftet und die Menschen in den ländlichen Regionen trotz des massiven Bevölkerungsrückgangs weiterhin “gleichwertige Lebensverhältnisse“ vorfinden. Außerdem verspricht die Regierung eine gleichbleibend gute Versorgung auch der zunehmenden Zahl älterer Menschen – bei Stabilität der Staatsfinanzen und der sozialen Sicherungssysteme.

Koch: Wieso machen es die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung schwerer, diese Ziele gleichzeitig zu erreichen?

Klingholz: Wenn die Bevölkerung abnimmt und dieser Verlust nicht durch eine massive Zuwanderung ausgeglichen wird, verlieren vor allem ländliche Regionen Bewohner. Die Lebensverhältnisse dort werden schlechter. Sie auf heutigem Niveau zu halten, würde die finanziellen Möglichkeiten des Staates überfordern.

Koch: Wenn Deutschland in 20, 30 Jahren weniger Menschen, Konsumenten und kreative junge Leute hat, wird vielleicht weniger zusätzlicher Wohlstand erwirtschaftet als heute. Aber trotzdem kann die Wirtschaft doch weiter wachsen?

Klingholz: Einige Faktoren schränken dieses Wachstum erheblich ein. Zum einen müssen deutlich mehr ältere Menschen versorgt werden. Dies sind soziale Investitionen, die nicht zu Innovation und höherer Produktivität führen. Bei Investitionen in die Bildung junger Menschen ist das anders: Sie schaffen später Produktivität und Wohlstand. Hinzu kommt, dass unser Wirtschaftswachstum gegenwärtig im zehnjährigen Schnitt ohnehin nur noch bei 0,9 Prozent jährlich liegt. Wenn nun die Zahl der Erwerbstätigen sinkt und die der zu Versorgenden steigt, werden wir künftig kaum mehr Wachstum erreichen. Dann schrumpft der Kuchen, es gibt weniger zu verteilen.

Koch: Und gleichzeitig steigen die Steuern und Sozialabgaben?

Klingholz: Das spricht niemand gerne aus. In 20, 30 Jahren wird uns der Staat mehr Geld aus der Tasche ziehen, weil wir die steigenden Kosten des Alterns bei nachlassender Wirtschaftskraft finanzieren müssen. Und man sollte sich darauf einstellen, dass die Rente mit 67 nicht das letzte Wort zur längeren Lebensarbeitszeit war.

Koch: Die Bundesregierung suggeriert, wir könnten die heutige Art der Besiedlung Bayerns, Baden-Württembergs, Hessens und anderer Flächenländer aufrechterhalten. Eine Illusion?

Klingholz: Schon heute schafft vor allem die moderne Wissensgesellschaft in den Zentren neue Jobs. Auf dem platten Land gehen eher Arbeitsplätze verloren. Junge Leute ziehen aus den ländlichen Regionen weg. Die Infrastruktur folgt dieser Abstimmung mit den Füssen. Schwimmbäder werden geschlossen, Schulen, Geschäfte, Banken ebenso, der Bus fährt nicht mehr. Das Leben auf dem Land wird unattraktiver. Wenn nun die Bevölkerung insgesamt schrumpft, verliert vor allem der periphere ländliche Raum weiter und überproportional.

Koch: Wird man später ganze Dörfer aufgeben?

Klingholz: Das deutet sich schon heute in dünn besiedelten Gebieten von Brandenburg oder Vorpommern an. Aber auch im Westen, in Oberfranken oder im Bayerischen Wald, in Nordhessen oder im Harz geht der Trend in diese Richtung.  Die Bundesregierung hält jedoch daran fest, dass auch künftig überall auf dem Land gleichwertige Lebensverhältnisse herrschen. Sie sollte sich auf das Wesentliche konzentrieren.

Koch: Die Regierung unterstellt, dass weiterhin rund 200.000 Zuwanderer jährlich kommen. Tut sie genug, um dies zu erreichen?

Klingholz: Nein, die deutsche Politik handelt sehr defensiv, was sich an den Zuwanderungszahlen für Hochqualifizierte zeigt. Innerhalb der EU haben wir zwar eine weitgehende Wanderungsmöglichkeit, aber der Gewinn von Talenten aus Drittstaaten dürfte gegen Null tendieren, denn wir verlieren ja auch gut ausgebildete Leute, etwa in die USA, nach Skandinavien oder in die Schweiz.

Koch: Was müsste geschehen?

Klingholz: Wir müssten weltweit offensiv Leute anwerben. Die Goethe-Institute und Stiftungen sollten im Ausland Sprachkurse anbieten. Die Kanadier beispielsweise betreiben Anwerbeagenturen in Deutschland, um qualifizierte Leute von hier nach Kanada zu holen. Das müssten wir kopieren. Denn junge, gut ausgebildete Einwanderer bedeuten künftigen Wohlstand. Unsere eigenen Nachwuchszahlen sind zu gering, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.

Bio-Kasten
Reiner Klingholz (58) leitet das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Er ist ausgebildeter Chemiker und Molekularbiologe.