Neuorientierung im Bundestag: Bruttoinlandsprodukt bald nicht mehr einziger Indikator für Wohlergehen
Ein erstaunlicher Prozess läuft gegenwärtig im Deutschen Bundestag in Berlin ab. Gemeinsam stellen Abgeordnete aller politischen Richtungen das herrschende Wirtschafts- und Wohlstandsmodell in Frage. Die kritische Prüfung der Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg findet statt in der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Mittlerweile liegen Teile der Abschlussberichte vor.
Wirtschaftswachstum ist problematisch
Die Abgeordneten der parteiübergreifenden Kommission wissen, dass die Wachstumsraten in den alten Industrieländern sinken, darunter auch in Deutschland. Waren in den 1960er und 1970er Jahren vier Prozent jährlichen Zuwachses keine Seltenheit, können wir heute froh sein, wenn 1,5 Prozent hinzukommen. Das hat Konsequenzen: Bei weniger Zuwachs ist auch weniger zu verteilen. Sollen die Renten steigen oder die Gewinne der Unternehmen? Die Auseinandersetzungen werden härter. Gleichzeitig führt der Versuch, trotzdem höheres Wachstum zu erzielen, zu Krisen: Das beste Beispiel ist die Finanzkrise seit 2007. Außerdem lebt auch Deutschland permanent über seine Verhältnisse, indem es der Natur zu viele Rohstoffe entnimmt und zu große Abfallmengen aufbürdet, etwa in Form klimaschädlichen Kohlendioxids.
Wir müssen bescheidener werden
Daraus zieht die Opposition – SPD, Grüne, Linke – eine eher wachstumskritische Konsequenz. Sie geht „für die Zukunft von niedrigen bis stagnierenden Gesamtwachstumsraten“ aus, heißt es im gerade veröffentlichten Bericht. Dies ist eine Mischung aus Analyse und Vision. Das Ziel besteht darin, die Gesellschaft auch ohne große Zuwächse für möglichst viele Menschen lebenswert zu erhalten. Erreichen will man das mittels der „sozial-ökologischen Transformation“. Dies bedeutet unter anderem, höhere Einkommen und Vermögen stärker zu besteuern, um der sozialen Spaltung entgegenzuwirken. Außerdem wollen SPD, Grüne und Linke Wachstum und Umweltverbrauch möglichst „entkoppeln“.
Aber das Wachstum hat auch Vorteile
Die Koalition aus Union und FDP ist weniger kritisch. Sie betrachtet Krisen als Ausnahmen und betont die Vorteile des Wachstumsmodells. Diese bestehen beispielsweise darin, dass man Staatsschulden schneller reduzieren und Sozialzahlungen besser finanzieren kann, wenn die Leistungskraft der Wirtschaft stärker steigt. Kommissionsmitglied Florian Bernschneider (FDP) betont, dass man Wirtschaftswachstum weder begrenzen kann, noch einschränken sollte. Höhere Zuwachsraten als 1,5 Prozent halten Union und FDP durchaus für erreichbar und auch wünschenswert.
Ein neuer Maßstab wird gesucht
Einig sind sich Koalition und Opposition aber darin, dass Wirtschaftswachstum kein Selbstzweck mehr sein dürfe. Die Abgeordneten haben den überparteilichen Konsens erarbeitet, den bisherigen Wachstumsmaßstab des Bruttoinlandsprodukt zu ergänzen. Während das BIP nur den Wertzuwachs der Produktion zeigt, werden künftig wohl zusätzliche Indikatoren ausgewiesen: Diese berücksichtigen dann die soziale Entwicklung und die ökologischen Auswirkungen. In ihrem Abschlussbericht im kommenden Mai will die Kommission auch festlegen, ob die Bundesregierung beispielsweise künftig alle zwei Jahre einen Bericht über das „gute Leben“ herausgibt.
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Innovationen am Ende?
Ökonomen diskutieren gegenwärtig, ob den westlichen Industriestaaten die Innovationskraft ausgeht und deshalb das Wachstum versiegt. Eine These: Seit dem Jahr 1800 seien bereits die Erfindungen gemacht worden, die die größten Produktivitäts- und Wohlstandszuwächse hervorgebracht hätten – beispielsweise Dampfmaschine, Elektrizität, Verbrennungsmotor, Antibiotika. Ähnliche Technologiesprünge seien in Zukunft kaum noch zu erwarten. Gegenthese: Das Internet ist noch jung. Es revolutioniert unser Leben ähnlich wie die Eisenbahn und der Flugverkehr. Und die größten Fortschritte auf Basis der Kommunikationstechnologie kommen erst noch.