„Die FDP ist nicht aus der Gefahrenzone“

Gerhart Baum: Die Liberalen sollten die Bürgerrechte stärker betonen, zum Beispiel gegenüber Internetfirmen und Banken, fordert vor dem Parteitag der ehemalige Innenminister

Hannes Koch: Die Schweizer haben für die Beschränkung der Managergehälter gestimmt. Welche Bedeutung hat dieses Ereignis für die deutsche Regierungspolitik und die FDP?

Gerhart Baum: Dieses ermutigende Zeichen aus der Schweiz hat erhebliche Auswirkungen. Bei allen Bundestagsparteien, auch der Regierungskoalition aus Union und FDP, bildet sich jetzt eine ähnliche Meinung heraus.

Koch: Bisher konnten sich nur wenige FDP-Politiker solche Eingriffe in den Markt vorstellen. Beobachten Sie vor dem Bundesparteitag der Liberalen am kommenden Wochenende einen grundsätzlichen Wandel?

Baum: Lange Zeit setzten auch die deutschen Liberalen ein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes, das aus heutiger Sicht völlig unverständlich ist. Jetzt ist die Partei aber glücklicherweise aufgewacht.

Koch: Gibt es weitere Indizien dafür, dass die FDP ihre marktfreundliche Politik der vergangenen Jahrzehnte revidiert?

Baum: Früher hat sie beispielsweise die Einführung einer neuen Steuer für Finanztransaktionen auf europäischer Ebene abgelehnt. Nun wird die Parteiführung dieses Vorhaben wohl bald auch öffentlich akzeptieren. Meine Partei gewinnt die Erkenntnis zurück, dass der Staat ein wichtiger regulativer Faktor in der modernen Gesellschaft ist.

Koch: Die FDP-Führung scheint neuerdings auch zu akzeptieren, dass politisch fixierte Mindestlöhne die Ausbreitung von Armut verhindern könnten. Sind solche Positionswechsel taktischem Kalkül vor der Bundestagswahl im September geschuldet oder erkennen Sie darin eine neue Ausrichtung des Programms?

Baum: Die FDP reagiert auch auf die veränderte Stimmungslage in der Bevölkerung. Natürlich will sie ihre Chancen bei der Bundestagswahl erhöhen. Ich glaube aber, dass die Veränderung des liberalen Programms mehr ist als ein Strohfeuer. Jetzt erhalten endlich die Bildungs- und die Bürgerrechtspolitik wieder eine angemessene Bedeutung. Auch die Öffnung des Landes für Zuwanderer und die Abkehr vom Verbot der doppelten Staatsangehörigkeit sind gute Signale. Allerdings nimmt die Partei noch immer nicht zur Kenntnis, wie verbreitet Armut in Deutschland inzwischen ist.

Koch: Welche neuen Themen müsste Ihre Partei bearbeiten, um eine größere Attraktivität für die Wähler zu gewinnen?

Baum: Ein ganz wichtiges Freiheitsthema ist die Bändigung der internationalen Datenmärkte. Milliardenfach werden persönliche Daten von Staaten und Unternehmen gesammelt, ausgewertet und verkauft. Die Wirtschaftsmacht Google ist ebenso gefährlich wie das Datensammelsystem der amerikanischen Sicherheitsbehörden. Außerdem sollte sich die Partei mehr um die Gleichstellung der Frauen kümmern.

Koch: Mit einem Buch haben Sie Privatanleger davor gewarnt, dass sie von Banken, Anlageberatern und Fonds systematisch übervorteilt werden. Finanzpolitische Bürgerrechte – könnte das ein lohnendes Betätigungsfeld für die FDP sein?

Baum: Diese Bürgerrechte sind weder ausreichend definiert, noch gewährleistet. Hier gibt es großen Handlungsbedarf. Täglich werden unzählige Menschen mit faulen Finanzprodukten über den Tisch gezogen. Die staatlichen Reaktionen bleiben weit hinter dem zurück, was bei Nahrungsmittelskandalen üblich ist. Bedauerlicherweise hat die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf zur Kontrolle riskanter Finanzprodukte wieder aufgeweicht.

Koch: Während der vergangenen Jahre sah es so aus, als würde sich die FDP als Partei der Euro-Skeptiker etablieren. Hält die Führung diese Option offen?

Baum: Einige FDP-Politiker befürworteten eine Abkehr von Europa und einen Rückfall in nationalstaatliches Denken. Zum Glück war damit bisher kaum Zuspruch zu gewinnen. Als die FDP bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 mit einem euro-skeptischen Programm antrat, erhielt sie nur 1,8 Prozent der Stimmern. Aber noch ist diese Gefahr nicht völlig gebannt.

Koch: Welche Personen können künftig ein umfassenderes Verständnis von Liberalismus in der FDP repräsentieren?

Baum: Bei den Führungskräften in Bund und Ländern gibt es eine ganze Reihe von Politikern, denen ich dies zutraue – an der Spitze dem Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen FDP, Christian Lindner. Es ist wichtig, dass die Reformer sich durchsetzen. Denn die FDP ist keineswegs aus der Gefahrenzone heraus. Die Umfrage-Ergebnisse liegen bundesweit um die fünf Prozent, knapp an der Grenze, die für den Einzug in den Bundestag ausschlaggebend ist.

Koch: Parteichef Philipp Rösler ist kürzlich nur knapp seinem Sturz durch innerparteiliche Widersacher entgangen. Der Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Rainer Brüderle, hat mit Mühe eine Affäre wegen herablassender Äußerungen gegenüber einer Journalistin überstanden. Sind diese Führungskräfte Garanten eines Erfolges bei der Bundestagswahl?

Baum: Rösler und Brüderle werden die FDP führen, aber nicht alleine. Der Parteitag wählt die amtierende Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Christian Lindner sicherlich zu stellvertretenden Parteivorsitzenden.

Koch: Eigentlich gibt es drei liberale Parteien in Deutschland – die FDP, die Grünen und neuerdings die Piraten. Hat die FDP überhaupt noch eine Existenzberechtigung?

Baum: Durchaus, in Sachen Bürgerrechte ist keine Partei so konsequent wie die FDP. Grüne und SPD treten für konfiskatorisch hohe Steuern für Leistungsträger ein. Auch das marktwirtschaftliche Profil der CDU ist undeutlich. Wichtig erscheint mir aber, Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung miteinander zu verbinden.

Bio-Kasten

Gerhart Baum (80) ist der profilierteste linksliberale Kritiker der FDP-Politik innerhalb der Partei. In der Koalitionsregierung mit der SPD war er 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. Baum ist tätig als Rechtsanwalt, Publizist und Buchautor. 2009 veröffentlichte er das Buch „Abkassiert. Die skandalösen Methoden der Finanzbranche“, in dem er sich mit dem mangelnden Schutz für Privatanleger befasst.

Info-Kasten

Parteitag der Liberalen

Die angeschlagene Regierungspartei FDP veranstaltet am Samstag und Sonntag ihren Bundesparteitag. Bundeswirtschaftsminister und Parteichef der Liberalen, Philipp Rösler, kandidiert für die Wiederwahl. Der Fraktionschef im Bundestag, Rainer Brüderle, soll Spitzenkandidat für die Bundestagswahl werden.

An der Eignung beider gab es kürzlich starke Zweifel. Rösler stand kurz vor dem Sturz. Führungsschwäche und schlechte Umfragewerte warfen ihm innerparteiliche Kritiker wie Entwicklungsminister Dirk Niebel vor. Ein halbes Jahr vor der Wahl steht die FDP in Umfragen bei fünf Prozent, was nur knapp für den Einzug in den Bundestag reichen würde. Bei der Bundestagswahl 2009 bekamen die Liberalen 14,6 Prozent der Stimmen.

Um mehr Zustimmung zu erhalten, öffnet sich die FDP derzeit programmatisch. Die frühere Hauptforderung nach Steuersenkungen trat in den Hintergrund. Themen wie Bürgerrechte und soziale Gerechtigkeit werden wichtiger.