Zehn Jahre Agenda 2010: Die Arbeit nimmt nicht zu, aber sie wird von mehr Menschen gemacht. Das Sozialsystem aber ist heute stabiler. Von Wolfgang Mulke und Hannes Koch
Am kommenden Donnerstag vor zehn Jahren hielt Kanzler Gerhard Schröder seine Rede zur Agenda 2010. Daraus entstanden unter anderem die umstrittenen Hartz-Gesetze. Das politische System veränderte sich: Infolge des Protests wurde die Linkspartei gegründet, der SPD liefen viele Wähler davon. So weit, so klar. Die wirtschaftliche und soziale Wirkung der Reformen aber bedarf einer genaueren Erklärung.
Hat das Klima im Land sich verändert?
Ja. Zentrale Bestandteile der Gesetze waren: Die alte Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft. Diese hatte es zuvor vielen Erwerbslosen ermöglicht, sich jahrelang mit rund der Hälfte ihres früheren Arbeitseinkommens durchzuwursteln. Der Fall vom Arbeitslosengeld auf Sozialhilfeniveau – seitdem Arbeitslosengeld II genannt – geht seitdem sehr viel schneller. Hinzu kamen schärfere Regeln, welche Jobs Arbeitslose akzeptieren müssen. Auch ein deutlicher Gehaltsverlust gegenüber früheren Tätigkeiten ist nun kein Argument mehr, sich einer neuen Stelle zu verweigern. Der Druck auf Erwerbslose führt dazu, dass sie schneller eine neue Arbeit suchen.
Wurde die Arbeitslosigkeit bekämpft?
Die Arbeitslosigkeit sinkt. Seit 2003 steigt die Zahl der Erwerbstätigen nahezu unentwegt an – auf mittlerweile fast 42 Millionen Personen. Das Arbeitsvolumen, die Summe der jährlich geleisteten Arbeitsstunden, ist jedoch kaum höher als um das Jahr 2000. Das bedeutet: Es gibt nicht mehr Arbeit als vor der Reform, aber sie wird von mehr Menschen gemacht. Hier schlägt sich nieder, dass steuerlich bevorzugte Minijobs und andere Formen deregulierter Beschäftigung eingeführt wurden. Viele Arbeitnehmer sind gezwungen oder bereit, sich auf solche schlecht abgesicherten und bezahlten Stellen einzulassen.
Sind die Löhne gesunken?
Schon vor den Hartz-Gesetzen begann eine Phase, in der die Reallöhne der deutschen Arbeitnehmer stagnierten und sogar zurückgingen. Zudem nahm der Niedriglohnsektor zu. 2010 arbeitete fast ein Viertel der Beschäftigten für Entgelte unter neun Euro brutto pro Stunde. Löhne von fünf Euro sind keine Seltenheit. Deshalb wächst die Armut – auch unter arbeitenden Menschen. Mittlerweile sind davon etwa 16 Prozent der Haushalte in Deutschland betroffen – auch ein Ergebnis der Hartz-Gesetze.
Steht Deutschland wirtschaftlich besser da?
Vor der Agenda 2010 wurde Deutschland als kranker Mann Europas verspottet. Heute blicken viele Staaten neidisch auf die wirtschaftliche Stärke des Landes. Die Unternehmen wurden bei den Arbeitskosten kräftig entlastet und der viel flexiblere Arbeitsmarkt erleichtert den Betrieben eine schnelle Anpassung des Personals an das vorhandene Arbeitsvolumen. Dazu trägt zum Beispiel die Erleichterung bei der Zeitarbeit bei. Für kleinere Unternehmen wurde der Kündigungsschutz gelockert. Alles zusammen hat die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt. Vor allem aber blieb Deutschland ein wichtiger Industriestandort. Die Rekorde beim Export sprechen für einen Erfolg der Hartz-Gesetze.
Konnten die Sozialversicherung stabilisiert werden?
Im Rahmen der Reformen stieg das Rentenalter auf 67 Jahre. 2005 wurde zudem der so genannte Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt – das Rentenniveau sinkt. Vorteile: Insgesamt bleiben die Ruhegelder langfristig bezahlbar. Der Beitragssatz steigt für die nächste Generation der Arbeitnehmer ebenfalls nicht über 22 Prozent. Aber es gibt auch Schattenseiten. Denn insbesondere Geringverdiener und Langzeitarbeitslose sind von Altersarmut bedroht. Im Gesundheitswesen nahm man Korrekturen vor, die vor allem auf Leistungskürzungen und höhere Zuzahlungen hinausliefen. Den meisten Patienten ist die Praxisgebühr von zehn Euro noch in Erinnerung, die 2004 eingeführt, mittlerweile aber wieder abgeschafft wurde. Die Wirkung all dieser Maßnahmen blieb beschränkt. Die Kosten für die Gesundheitsversorgung sind weiter angestiegen.