Patienten, die zu Professor Thomas Meyer kommen, haben manchmal nur noch wenige Monate zu leben. Sie leiden an ALS, also an Amyotropher Lateralsklerose, einer fortschreitenden Erkrankung des zentralen Nervensystems. Der 43-Jährige leitet die Ambulanz für
Mandy Kunstmann: Warum braucht man eine Patientenverfügung?
Thomas Meyer: Das Dokument ist eine Orientierungshilfe für den Arzt. Sie sagt ihm, welche die Therapieform ist, die sich der Patient wünscht. Leidet jemand beispielsweise unter Atemnot und ist bewusstlos, kann das Papier dem Mediziner verraten, ob ein Beatmungsgerät oder ein bestimmtes Medikament die geeignete Therapieform ist.
Kunstmann: Die Verfügung vermeidet also Konflikte zwischen Arzt und Patient beziehungsweise seinen Angehörigen?
Meyer: Konfliktpotential ist oft gar nicht da. Die Patientenverfügung ist ja kein Schlichtungsdokument. Der Kranke beschreibt seine Wertmaßstäbe gegenüber seinem Leben und auch seinem Tod. Das Schriftstück ist keine Sache von wenigen Minuten und sollte frühzeitig und nicht erst im Krankenhaus verfasst werden.
Kunstmann: Gibt es bestimmte Vorschriften wie eine Patientenverfügung aufgesetzt sein muss?
Meyer: Tatsächlich braucht das Dokument eine bestimmte Form. Nicht immer erfüllen die Verfügungen meiner Patienten die Vorgaben. Wichtig ist zum Beispiel die eigene Unterschrift. Die war früher nicht Pflicht.
Kunstmann: Wie häufig sollte ich das Schreiben aktualisieren?
Meyer: Dafür gibt es keine Richtlinien. Eine Patientenverfügung ist umso besser, desto konkreter sie ist. Setzt ein gesunder Mensch das Schreiben auf, kann er nur allgemein formulieren, welche Maßnahmen er im zukünftigen Krankheitsfall ablehnen möchte. Wird dieser Mensch zum Patienten, ist es wichtig, die Verfügung zu ändern. Jetzt kann er die Erkrankung konkret benennen und gegebenenfalls seine Wertvorstellungen erneuern.
Kunstmann: Was passiert, wenn im Notfall keine Patientenverfügung vorliegt?
Meyer: In einer Notsituation wird der Arzt in jedem Fall mit der Maximaltherapie anfangen und den Patienten stabilisieren. Er wird zum Beispiel einen Bewusstlosen mit Atemnot künstlich beatmen. Hat der Mediziner genügend Zeit, wird er im Anschluss versuchen, den „vermutlichen Patientenwillen“ zu ermitteln. Dazu kann er die Familie befragen. Sind keine Vorsorgebevollmächtigten oder Angehörige vorhanden, wendet er sich an das Gericht und lässt einen amtlichen Betreuer stellen. Der Arzt entscheidet dann gemeinsam mit dem Betreuer, der die Belange des Patienten aus seiner vermutlichen Sicht vertritt.
Kunstmann: Fällt es den Menschen schwer, sich mit dem Thema „Patientenverfügung“ auseinanderzusetzen?
Meyer: Nach wie vor fällt es den ihnen schwer, sich damit zu beschäftigen. Das liegt daran, dass das Thema „Patientenverfügung“ in unserer Gesellschaft nicht präsent ist und häufig negativ diskutiert wird. Das Dokument hat den Nimbus, es ginge darum eine Fehlbehandlung zu verhindern. Das kann im Einzelfall zutreffen, berührt aber die eigentliche Absicht einer Patientenverfügung. Wir sollten vielmehr die Patientenverfügung als Brief an den Arzt verstehen, der ihm die eigene Therapievorstellung beschreibt.
Bio-Box: Thomas Meyer ist seit 2002 Leiter der Ambulanz für ALS und andere Motoneuronenerkrankungen der Berliner Charité. Der 43-jährige Professor war zuvor in Ulm als Facharzt für Neurologie tätig. Er hat an der dortigen Uniklinik habilitiert.