Der Druck, eine saubere Jugendbiografie abzuliefern

Abschluss in der Tasche und hinaus in die Welt der Erwachsenen: Nach der Schule fängt für Jugendliche ein neuer Lebensabschnitt an. Soziologe Wolfgang Gaiser vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München erklärt, welche Probleme Berufs- und Studienanfänge

Mandy Kunstmann: Herr Gaiser, die Schule ist endlich aus, das Abschlusszeugnis in der Hand. Welche Schwierigkeiten kommen auf Jugendliche dann zu?

Wolfgang Gaiser: Das hängt ganz davon ab, welchen Abschluss die Schüler in der Tasche haben. Hauptschüler haben Probleme damit, ihre Wunschausbildung zu bekommen. Sie wollen einen zukunftsträchtigen Beruf erlernen. Sie möchten zum Beispiel KfZ-Mechaniker bei BMW werden und nicht irgendwo in einer langweiligen Werkstatt auf dem Lande arbeiten, wo sie nach der Ausbildung keine Stelle bekommen. Die großen Betriebe sieben jedoch extrem aus.

Kunstmann: Und wie geht es den Abiturienten?

Gaiser: Abiturienten stehen unter Stress. In den Bundesländern, in denen die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre verkürzt worden ist, müssen die Schüler den Stoff schließlich in kürzerer Zeit packen. Wenn sie dann die auf die Universität gehen wollen, müssen sie heute in ein verschultes System einsteigen, das wiederum Druck ausübt.

Kunstmann: Schadet der Bachelor, also das Kurzstudium, den jungen Leuten?

Gaiser: Es ist fraglich, ob das Bachelor-System mit seiner Verdichtung und Formierung den jungen Leuten wirklich zugute kommt. Die Zeit, in der das Studium eine schöne Phase des sich Ausprobierens war, ist vorbei.

Kunstmann: Wie groß ist der Druck, den unsere Gesellschaft auf die jungen Menschen ausübt?

Gaiser: Der ist enorm. Junge Menschen stehen heute gänzlich unter öffentlicher Kontrolle. Von ihnen wird erwartet, mit 25 Jahren eine saubere Jugendbiografie abzuliefern. Alles ist heutzutage schließlich mit Zeugnissen versehen. An der Schule gibt es Noten, an der Uni Scheine oder Praktika-Beurteilungen und sogar das freiwillige soziale Jahr wird bewertet.

Kunstmann: Ist dieser Leistungsdruck schädlich?

Gaiser: Tatsächlich kann zu viel Druck schaden. Wir beobachten, dass Depressionen unter Jugendlichen zunehmen. Zornausbrüche oder Rückzugstendenzen treten auch immer häufiger auf.

Kunstmann: Gibt es Jugendliche, die besonders gefährdet sind.

Gaiser: Nicht jeder wird in Depression verfallen oder an Wutausbrüchen leiden. Ein starker Familienzusammenhalt oder ein guter Freundeskreis können die Belastungen auffangen.

Kunstmann: Nicht jeder ist mit einem starken sozialen Umfeld gesegnet…

Gaiser: … und die Schere zwischen denen, die auf der Strecke bleiben und denen, die eine internationale Karriere hinlegen, weil sie genügend Unterstützung haben, wird immer breiter.

Bio-Box: Wolfgang Gaiser arbeitet seit 1972 beim Deutschen Jugendinstitut (DJI). Der 63-Jährige Diplom-Soziologe und Doktor der Sozialwissenschaften ist bei dem Münchner Institut Grundsatzreferent für Jugendforschung.