„Unter dem Strich ist der Einsatz gerechtfertigt“

Die Bundeswehr in Afghanistan sei nicht gescheitert, sagt Adrienne Woltersdorf/ FES Kabul

Hannes Koch: Frau Woltersdorf, US-Soldaten in Afghanistan haben Koran-Exemplare auf den Müll geworfen, ein US-Militär erschoss in einem Amoklauf kürzlich mehrere Einheimische, die Bundeswehr räumte aus Besorgnis einen Stützpunkt. Fühlen Sie sich in Kabul nun stärker gefährdet?

Adrienne Woltersdorf: Die Situation ist angespannt. Die Dolmetscher, die Ausländer begleiten, werden zum Beispiel häufig gefragt, warum sie noch für die Ungläubigen arbeiten.

Hannes Koch: Führen Sie ein einigermaßen normales Leben, wie kommen Sie beispielsweise morgens ins Büro?

Woltersdorf: Von einem normalen Alltagsleben kann kein Rede sein. Ich gehe fast nie zu Fuß. Unsere Fahrer nehmen jeden Tag einen anderen Weg – nicht aus Angst vor Anschlägen der Taliban, sondern um Entführungen zu vermeiden. Die zunehmende Kriminalität ist ein großes Problem. Die internationalen Helfer versuchen, möglichst nicht aufzufallen, um keine feindlichen Reaktionen hervorzurufen. In Kabul gibt es zwar etwa 40 internationale Restaurants, aber auch dort treffen wir uns kaum noch.

Koch: Wie können Sie Fortschritte für die afghanische Bevölkerung erreichen, wenn Sie sich unsichtbar machen?

Woltersdorf: Bisher ist es uns durchaus gelungen, die aufkeimende afghanische Zivilgesellschaft zu unterstützen, die Interesse an Partizipation und Offenheit hat. Wir helfen beispielsweise jungen Leuten dabei, die Kenntnisse zu erwerben, die ihnen eine Mitwirkung im politischen System gestatten. Augenblicklich ist die Durchlässigkeit sehr hoch, ehrgeizige Zwanzigjährige machen alles gleichzeitig – studieren, arbeiten, Karriere. In jungen Jahren kann man schon eine hohe Position in einem Ministerium bekleiden.

Koch: Ist das der wichtigste Fortschritt, den das Engagement des Westens für die afghanische Bevölkerung gebracht hat?

Woltersdorf: Die ökonomische und politische Teilhabe halte ich für entscheidend. Außerdem muss man wissen, dass weite Teile Afghanistans mittlerweile stabil und friedlich sind – trotz gegenteiliger Nachrichten aus den südlichen Provinzen.

Koch: Der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat hält den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan für gescheitert. Richtig oder falsch?

Woltersdorf: Insgesamt ist dieses Urteil zu negativ. Einerseits haben die internationalen Truppen zwar die Fähigkeit der Taliban unterschätzt, immer neue, junge Kämpfer zu rekrutieren. Andererseits sind aber vielerorts Strukturen entstanden, auf denen die Zukunft aufgebaut werden kann. Die Bilanz ist gemischt. Unter dem Strich ist der Einsatz gerechtfertigt.

Koch: Nach dem Amoklauf wird nun diskutiert, die ausländischen Truppen früher abzuziehen als zum eigentlich geplanten Termin 2014. Was würde passieren, wenn die Bundeswehr und möglicherweise auch die anderen Staaten Afghanistan schneller verließen?

Woltersdorf: Schon die ungeordnete Debatte über den früheren Abzug richtet großen Schaden an. Sie setzt eine negative Dynamik in Gang. Beispielsweise lässt damit der Druck auf die Taliban nach, sich an Friedengesprächen zu beteiligen. Außerdem nimmt die Zukunftsangst der afghanischen Bevölkerung zu. Die Menschen vertrauen ihren eigenen Soldaten und Polizisten noch nicht, dass diese das Land ohne die Hilfe des Westens stabil halten können.

Koch: Wäre es aus heutiger Sicht nicht eher notwendig länger zu bleiben?

Woltersdorf: Das ist schwer zu beantworten. Sollte der augenblickliche negative Trend anhalten, besteht die Gefahr, dass die einheimischen Sicherheitskräfte 2014 noch nicht stark genug sind, um alleine für Stabilität zu sorgen. Die Afghanen sorgen sich, dass die Wirtschaft des Landes einbricht, wenn die Truppen abziehen. Die schlechte Sicherheitslage und die zunehmende Kriminalität könnten dann dazu führen, dass weniger Investitionen ins Land kommen.

Bio-Kasten

Adrienne Woltersdorf (45) ist Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Zuvor leitete sie das chinesische Programm der Deutschen Welle in Bonn und war USA-Korrespondentin der Berliner Tageszeitung taz. Sie ist verheiratet mit dem deutsch-türkischen Journalisten Cem Sey, der aus Kabul berichtet.

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Wie weiter mit Afghanistan?

Soll die Bundeswehr früher aus Afghanistan abziehen? Eigentlich ist Ende 2014 als Termin für den Abzug festgelegt. Nach dem Amoklauf eines US-Soldaten erklärte Afghanistans Präsident Karsai jedoch unlängst, dass die einheimischen Streitkräfte schon 2013 ohne Unterstützung des Westens auskämen. Nicht nur zwischen den Regierungen gibt es Uneinigkeit und Unzufriedenheit. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung plädiert laut Umfragen ebenfalls für einen schnelleren Abzug vor 2014.