„Vor allem Jüngere sind anfällig“

Nicht nur Drogen, Medikamente oder Alkohol können abhängig machen. Manchmal ist es der eigene Job, der zur Sucht wird. Wie Menschen zu ständigen „Arbeitstieren“ werden und welchen Ausweg es aus der misslichen Lage gibt, weiß Hinrich Bents, Leiter des Zen

Mandy Kunstmann: Was ist am vielen Arbeiten denn so schlimm?

Hinrich Bents: Viel Arbeit ist nicht immer schlimm, sie kann Freude machen, das Leben sichern und das Selbstbewusstsein stärken. Man erfüllt sich wichtige Ziele oder Lebensträume – sogar dann, wenn man zehn, zwölf oder mehr Stunden am Tag arbeitet. Aber viel Arbeit kann auch die Gesundheit schädigen, körperlich und seelisch. Letzteres vor allem dann, wenn die Arbeit zur Sucht wird.

Kunstmann: Und wann wird der Job zur Sucht?

Bents: Wenn die Menge der Arbeit nicht mehr aus den Aufgaben selbst entsteht, sondern anderen Zwecken dient. Zum Beispiel, um von anderen Problemen abzulenken. Manche haben Schwierigkeiten, mit anderen in Kontakt zu treten und ziehen sich in die Arbeit zurück. Sie laufen dann nicht nur Gefahr zu vereinsamen, sondern auch sich selbst zu vernachlässigen und die eigenen Grenzen nicht mehr zu erkennen. Ihnen drohen Burnout, ernsthafte psychosomatische oder psychische Erkrankungen.

Kunstmann: Gibt es Berufsgruppen, die besonders anfällig für Arbeitssucht sind?

Bents: Sowohl in Gesundheitsberufen als auch in Berufen, die durch finanzielle Anreize geprägt sind wie zum Beispiel durch „Boni“, finden wir häufig solche Störungen. Beide erleben sich als besonders „wertvoll“ – die einen durch ihre Arbeit für Menschen, die anderen durch das Geld.

Kunstmann: Ist es überhöhter Ehrgeiz oder Leistungsdruck, der die Menschen in die Sucht drängt?

Bents: Leistungsdruck und Belohnungen von außen können Arbeitssucht hervorrufen. Aber die Ursachen sind komplizierter. Es braucht auch das innere Bedürfnis, sich durch Arbeit zu bestätigen. Oft mangelt es Betroffenen auch an anderen Möglichkeiten, Zufriedenheit und Glück im Alltag zu finden.

Kunstmann: Und ihre eigenen Grenzen erkennen Arbeitssüchtige nicht?

Bents: Richtig. Sie glauben von sich selbst, ohne Grenzen leistungsfähig zu sein. Dass sie eben doch Grenzen haben, übersehen sie. Das ist auch leicht möglich in einer Gesellschaft, die uns gerne vorgaukelt, dass „alles möglich ist“ und jeder zum „Superstar“ werden kann.

Kunstmann: Die Sucht ist also ein Ausdruck unserer Gesellschaft die nach dem Motto „immer schneller, immer besser“ lebt?

Bents: Eine immer komplizierter werdende Gesellschaft trägt sicher dazu bei. Nicht unbedingt durch die Forderung nach Mehrarbeit, sondern durch die Forderung, vieles zu können und alles möglich zu machen. Zwar brauchen heute viele Menschen mehr als einen Job, um über die Runden zu kommen. Aber das ist ja keine Sucht, sondern Notlage. Zur Arbeitssucht trägt heute viel mehr eine noch nie da gewesene Informationsvielfalt bei. Heute wird viel mehr als früher verlangt. Wir müssen uns jederzeit auf immer neue Informationen und Aufgaben einstellen. Emails und SMS müssen sofort gelesen und beantwortet werden. Und parallel dazu müssen wir andere Aufgaben bewältigen, die ihrerseits wiederum eine Vielfalt von Kompetenzen verlangen.

Kunstmann: Werden immer mehr Menschen arbeitssüchtig?

Bents: Ob die Flucht in die Arbeit heute häufiger als früher auftritt, ist nicht sicher. Aber die Tendenz, eigene Grenzen zu verkennen und die eigenen Möglichkeiten zu überschätzen, ist bei vielen unserer Patienten auffällig.

Kunstmann: Wie kann Betroffenen geholfen werden?

Bents: Hilfe wird leider oft erst dann aufgesucht, wenn das problematische Verhalten zu ernsthaften Störungen oder Krankheiten geführt hat. Dann braucht es mehr als reine Erholung. Dann ist eine intensive und professionelle Psychotherapie notwendig, die den Betroffenen dabei hilft die eigenen Schwachstellen zu erkennen und andere Möglichkeiten zu finden, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen.

Frage: Welche Bedürfnisse?

Bents: Hier geht es nicht nur um das Bedürfnis nach Lebensunterhalt, sondern um das Bedürfnis nach Selbstwert, nach Zugehörigkeit oder nach Lebensqualität. Auch das sind menschliche Grundbedürfnisse, auf die wir nicht verzichten können, wenn wir gesund bleiben wollen.

Kunstmann: Werden viele rückfällig?

Bents: Wer Hilfe aufsucht, lernt in der Regel daraus und hat sehr gute Aussichten, stabil zu bleiben. Das Problem ist eher, Menschen frühzeitig auf die Gefahren hinzuweisen, die Arbeiten mit sich bringen kann. Vor allem jüngere Menschen sind für Arbeitssucht anfällig, weil sie noch nicht so gut auf eigene Grenzen und rationales Arbeitsverhalten vorbereitet sind. Andererseits – Alter schützt auch hier vor Torheit nicht.

Bio-Box: Hinrich Bents ist Lehrtherapeut für Verhaltenstherapie. Der 55-Jährige ist seit 2005 Leiter des Zentrums für Psychologische Psychotherapie der Universität Heidelberg. Der Therapeut kann auf 30 Jahre Berufserfahrung zurückblicken.

Das ZPP: Das Zentrum für Psychologische Psychotherapie (ZPP) ist Teil des Psychologischen Instituts der Universität Heidelberg und bildet Psychotherapeuten aus. Die Einrichtung verfügt über eine eigene Ambulanz mit derzeit 500 Patienten.