Leitartikel zum Atomausstieg von Hannes Koch
Man kann Gerhard Schröder und Jürgen Trittin vorwerfen, was man will. Jedenfalls waren die Spitzen der rot-grünen Koalition vor zehn Jahren erstaunlich hellsichtig. Der Atomausstieg, den sie damals mit den Energiekonzernen aushandelten, ist noch immer auf der Höhe der Zeit – von Details abgesehen. Im Kern könnte der neue Konsens, den die schwarz-gelbe Koalition in der kommenden Woche formuliert, dem alten Beschluss ziemlich nahe kommen.
Dem alten Konsens zufolge würden die meisten Atomkraftwerke bis zum Beginn des kommenden Jahrzehnts abgeschaltet. Weil das Enddatum nicht fixiert war, sondern auf Reststrommengen beruhte, könnten einige Anlagen auch ein paar Jahre länger laufen.
Ähnliches deutet sich nun an: Die 17 deutschen AKW gehen nach und nach vom Netz. Dass die ältesten, die gegenwärtig wegen der Atomkatastrophe in Fukushima stillstehen, noch einmal Strom produzieren werden, ist unwahrscheinlich. Die neueren Kraftwerke dagegen bekommen noch eine Gnadenfrist. Ob die auf 2022 beschränkt wird, wie CSU-Chef Horst Seehofer es wünscht, oder auf Bestreben der FDP unter Bedingungen flexibel bleibt, ist eher nebensächlich. Denn der wichtigste Punkt ist dieser: Mit dem sukzessiven Abschalten der Kernkraftwerke sinkt das Unfallrisiko beträchtlich, während wir gleichzeitig eine Übergangszeit nutzen können, um die neue Energieversorgung aufzubauen.
Innerhalb eines Vierteljahres knapp die Hälfte der deutschen Atomkraftwerke zu Schrott zu erklären, ist ein Riesenschritt. Mit diesem steht Deutschland weltweit alleine da. Dass wir besonders schnell sind, muss uns nicht von dieser Linie abbringen. Man kann sich aber fragen, ob die Bundesregierung Wirtschaft und Bürger nicht überfordern würde, wenn sie noch größere Eile verlangte. Wie das Umweltbundesamt sagt, wäre der Komplettausstieg bis 2017 vielleicht möglich – aber doch eine sehr große Herausforderung.
Denn eines darf nicht passieren: ein Stromausfall durch mangelnde Produktionskapazität. Käme es dazu, wäre der ganze schöne Atomausstieg wieder dahin. Dann schlüge die öffentliche Meinung sofort um. Das weiß auch Kanzlerin Angela Merkel. Deshalb ist die Regierung nicht schlecht beraten, der Energiewirtschaft eine gewisse Zeit zur Anpassung zu gewähren. Und die Bürger brauchen ebenfalls etwas Muße, um sich an die neue Lage zu gewöhnen. Denn auch ihnen wird die Regierung mit dem Ausstieg etwas abverlangen: in Maßen steigende Strompreise und jede Menge Baumaßnahmen in allen Teilen Deutschlands. Windparks und Stromtrassen lassen sich nicht von heute auf morgen gegen den Protest der Bürger durchsetzen.
So betrachtet, könnte also alles ziemlich einfach sein. Aber so ist es nicht, das politische Geschäft. Jede Partei und in ihr die wichtigsten Machtgruppen wollen jeweils möglichst viel von ihren eigenen Interessen durchsetzen. Dazu gehört es auch, Positionen zu formulieren, die nicht in erster Linie umsetzbarer Politik, sondern eher dem Bedürfnis nach Wahrnehmbarkeit in der Öffentlichkeit geschuldet sind.
Dieses Spiel ist auch jetzt wieder zu beobachten: SPD-Chef Sigmar Gabriel macht die bundesweite Suche nach einem Atomendlager zur Bedingung seiner Beteiligung am neuen Atomkonsens – wohlwissend, dass die CSU in Bayern dem kaum zustimmen wird. Und Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin will, um radikaler als die CDU zu sein, den Ausstieg ohne Hintertür bereits 2017.
Beide Seiten müssen sich klar sein, dass sie nicht überziehen dürfen. Ein Konsens liegt notwendigerweise in der Mitte, sonst wäre der Begriff falsch gewählt. Zu große Abweichungen gefährden eine breite Übereinkunft.
Aber ist dieser neue Konsens überhaupt notwendig? Warum sollte die Bundesregierung nicht einfach das beschließen, was sie will und basta? Auch hier lohnt ein Blick zurück ins Jahr 2001. Der alte Konsens befriedete einen tiefen gesellschaftlichen Konflikt. Das Problem war damit erledigt und alle konnten sich wichtigeren Dingen zuwenden.
Heute wäre es ähnlich: Der komplette Umbau des Energiesystems hin zu erneuerbaren Quellen ist eine Mega-Aufgabe für die kommenden 40 Jahre, die sich nur dann bewerkstelligen lässt, wenn es keine massiven Proteste aus Wirtschaft und Bevölkerung gibt. Wer dies im Auge hat, braucht sich über zwei Jahre Atomlaufzeit mehr oder weniger, zwei Milliarden Euro Brennelementesteuer und andere Detailfragen nicht ernsthaft zu streiten.