Das Feuer bannen statt bändigen

Der komplette Atomausstieg bis 2020 ist möglich. Aber auch Erdöl und Kohle können wir bis 2050 ersetzen, sagt Energieforscher Jürgen Schmid

Politiker sind frei, radikale Entscheidungen zu treffen. Auch wenn sie gerne auf die scheinbaren Grenzen verweisen, die ihr Handeln vermeintlich einengen. Ein gutes Beispiel für die Macht, die Volksvertreter in dieser komplizierten Welt trotz allem ausüben können, ist die Entscheidung der Bundesregierung für die Abschaltung der alten Atomkraftwerke. Vor ein paar Wochen noch hat die Regierung diese Variante nicht einmal in Erwägung gezogen. Nun, da die Debatte durch die Atomkatastrophe von Fukushima eine neue Dynamik erhalten hat, zeigt sich: Es ist noch viel mehr möglich – der komplette Ausstieg aus der Atomkraft.

Was aber hat sich durch Fukushima geändert? Die Aufmerksamkeit hat sich verschoben. Die Antennen der öffentlichen Meinung nehmen jetzt andere Signale wahr. Botschaften, die vor Monaten noch ungehört verhallten, sind nun Top-Meldungen. Wissenschaftler wie Jürgen Schmid vom Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesysteme in Kassel (Iwes) geben augenblicklich den Takt der Diskussion vor. „Wir können bis 2020 ohne Probleme vollständig aus der Atomenergie aussteigen“, sagt Schmid. „Das atomare Risiko brauchen wir nicht einzugehen“, fügt er hinzu, „wenn wir es richtig machen, haben wir tragfähige Alternativen.“

Für den relativ kurzfristigen Zeitraum bis 2020 sehen diese nach Schmids Angaben so aus: Vordringlich sei es, die erneuerbaren Energien beschleunigt auszubauen, vor allem die Windenergie auf der Nord- und Ostsee. Außerdem müsse man die alten Windparks an Land mit leistungsstärkeren Anlagen aufrüsten und zusätzliche Standorte für Windmühlen ausweisen. Dies betrifft vor allem die südlichen Bundesländer Hessen, Bayern und Baden-Württemberg. „Dort gab es bislang ein Kartell zur Verhinderung von Windkraftanlagen“, sagt Schmid.

Hinzu kommt, dass die Leistung der Atomkraftwerke schon heute rechnerisch überflüssig ist. Der Strombedarf Deutschlands kann auch ohne sie gedeckt werden. Während die Deutschen gleichzeitig maximal 80 Gigawatt (80 Milliarden Watt) Strom abrufen, beträgt die Kapazität aller Elektrizitätskraftwerke gut 96 Gigawatt. Würden die sieben alten AKW abgeschaltet, die die Bundesregierung vorübergehend stillgelegt hat, bliebe noch eine Kraftwerksleistung von 88 Gigawatt. Ganz ohne Atomkraftwerke sänke das mögliche Angebot auf rund 80 Gigawatt – etwa die Menge des aktuellen Strombedarfs. Die nötige Reserve, die dann nicht mehr vorhanden wäre, könnten zusätzliche Wind- oder Gaskraftwerke bereitstellen.

Mit diesen Schritten allerdings wäre nur eine der beiden großen energetischen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte bewältigt. Bleiben der Klimawandel und die Notwendigkeit, aus dem fossilen Energiesystem auszusteigen, das auf der Verbrennung von Kohle und Erdöl beruht. Doch auch hier senden das Umweltbundesamt, der Sachverständigenrat für Umwelt, der die Regierung berät, und viele Forschungseinrichtungen optimistische Nachrichten. Stellvertretend für sie sagt Jochen Flasbarth, der Präsident des Umweltbundesamtes in Dessau: „Bis 2050 können wir den Strom vollständig aus erneuerbaren Energien beziehen.“

Damit das gelingt, müssen wir allerdings viel sparsamer mit Energie umgehen, als heute. In Privathaushalten lassen sich beispielsweise bis zu 50 Prozent des Strombedarfs verringern, sagt Energieberater Dieter Seifried. Leuchtdioden und sparsame Waschmaschinen müssten dann zur Grundausstattung in jedem Haushalt gehören. Die Industrie würde auf effiziente Elektromotoren umsteigen.

Insgesamt bringt Iwes-Forscher Schmid den anstehenden Strukturwandel auf diesen Punkt: „Am Anfang der Zivilisation haben die Menschen das Feuer gebändigt. Nun müssen wir das Feuer bannen.“

Das wird natürlich nicht grundsätzlich und überall funktionieren. Aber die Richtung ist beschrieben. Die einfache Idee dahinter: In vielen Verbrennungsprozessen lässt sich am Ende nur ein Teil der Energie nutzen, die in den verfeuerten Ressourcen gespeichert war. Atomkraftwerke weisen beispielsweise nur einen Wirkungsgrad von 34 Prozent auf – zwei Drittel der vorhandenen Energie werden an die Umwelt abgegeben. Große Kohle-, Gas- und Öl-Kraftwerke nutzen ihren Brennstoff zu 30 bis 50 Prozent. Statt dieser Verschwendung ist es besser, sie durch Wind- und Solar-Kraftwerke zu ersetzen.

Und auch die Biomasse wird eine Rolle spielen. Allerdings sollte man Energiepflanzen nicht als Treibstoff in uneffektiven Verbrennungsmotoren verfeuern, sondern zu Biogas vergären. Dies lässt sich dem Erdgas im öffentlichen Netz beimischen, um Blockheizkraftwerke zu speisen, die in Gebäuden gleichzeitig Strom und Wärme produzieren.

Laut Iwes-Forscher Schmid muss man sich keine großen Sorgen wegen vermeintlich exorbitanter Kosten machen, die der Umstieg auf das neue Energiesystem verursachen könnte. Wenn man es klug anstelle, werde die Ökostromumlage, die alle Privatverbraucher für die erneuerbaren Energien zahlen, „weit unter fünf Cent pro Kilowattstunde Strom bleiben“. Heute beträgt die Umlage 3,5 Cent. Wichtige Gründe für die moderate Entwicklung: Die Öko-Kraftwerke werden effektiver, gleichzeitig steigen die Preise für konventionelle Energieträger und Verschmutzungszertifikate. Die Wettbewerbsfähigkeit der erneuerbaren Energien nimmt also zu. Zwischen 2020 und 2030 dürfte ein entscheidender Punkt erreicht sein: Dann wird das neue Energiesystem billiger als das konventionelle.