Finanzmärkte außer Kontrolle

Gezielte Spekulation und automatisierter Computerhandel haben den Absturz der Börsen im August beschleunigt. Wie funktionieren diese Geschäfte – und lassen sie sich eindämmen?

Für den erschreckenden Kursrutsch an den Börsen in den vergangenen Wochen war diese Geschichte sympthomatisch. Am Sonntag, dem 7. August, schrieb die Londoner Zeitung Mail on Sunday, die französische Großbank Société Générale stehe „möglicherweise am Rande der Katastrophe“. Kurz darauf verlor die Aktie der Bank mehr als 20 Prozent ihres Wertes – ein Verlust wie seit 23 Jahren nicht mehr.

Aber nicht nur die französische Bank war in jenen Tagen von einem massiven Kurssturz betroffen. Der Artikel fiel auf fruchtbaren Boden – herrschte doch ohnehin Verunsicherung wegen der Staatsschuldenkrise in Europa, USA und Japan. So lieferten die Zeilen einen der Anlässe, die den Börsen und vielen Unternehmen insgesamt hunderte Milliarden Wertverluste bescherten. Auch die Aktien deutscher Banken und Versicherungskonzerne verloren stark. Selbst französische Staatsanleihen gerieten unter Druck. Schwarzseher sagten wieder einmal den Kollaps der Weltwirtschaft voraus.

Erstaunlicherweise nahm die britische Zeitung zwei Tage nach Erscheinen ihres sagenhaften Artikels alles zurück: „Unsere Meldung war falsch und wir entschuldigen uns bei der Société Générale für die Unannehmlichkeiten.“ Die europäischen Regierungen und Bürger bat die Zeitung allerdings nicht um Verzeihung für die Folgen des Kursrutsches und die Schäden am öffentlichem wie privaten Wohlstand.

Mittlerweile hat sich die Lage an den Börsen wieder etwas beruhigt. Aber es bleiben Fragen: Wie kann es zu solch zerstörerischen Börsenlawinen kommen, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit des gesamten Finanzsystems entstehen lassen? Und wie gelingt es Investoren immer wieder, die offensichtliche Instabilität auszunutzen?

Eine Antwort gibt der Analyst einer Landesbank, die nicht genannt werden will. „Heute existieren kaum noch Informationslücken.“ Soll heißen: Auch komplett falsche Nachrichten wie der Mail-on-Sunday-Artikel erreichen in kurzer Zeit Millionen Anleger. Viele reagieren schnell, verkaufen Aktien und setzen so eine Entwicklung in Gang, die mit mehr Zeit zum Nachdenken und weniger schneller Technologie möglicherweise gar nicht stattgefunden hätte.

Auch in einer zweiten Hinsicht verstärkt die moderne Informationstechnik bestimmte Fehler und lässt aus ihnen Krisen entstehen. „Der verbreitete Einsatz des automatisierten Computerhandels führt zu heftigeren Kursausschlägen als früher“, sagt der Analyst. Das funktioniert so: Viele Finanzmarkt-Händler verfügen über Rechner, die einen Teil der Käufe und Verkäufe von Aktien und anderen Wertpapieren automatisch erledigen. Stellen die Programme beispielsweise fest, dass die Preise unter eine zuvor definierte Grenze sinken, die Kursausschläge zunehmen, oder die Nachfrage nachlässt, verkaufen sie bestimmte Anlagen, ohne dass ein Mensch eingreift. Auch Nonsens-Meldungen wie die Mail-on-Sunday-Nachricht können dann eine Verkaufspanik auslösen, obwohl gar nichts vorgefallen ist. Etwa die Hälfte des Handelsvolumens auf dem deutschen Markt würden mittlerweile die Computer bestreiten, sagt der Landesbank-Mitarbeiter. In den USA seien es bereits geschätzte 60 bis 70 Prozent.

Aber nicht nur aus Versehen kommen Verkaufslawinen ins Rollen, manche Anleger setzen absichtlich den ersten Stein in Bewegung. Dazu kann ein Gerücht wie das über die angeblichen Probleme der Société Générale dienen. Diese schlechte Nachricht, millionenfach verbreitet und verstärkt, setzt den Kurs unter Druck. Einige Investoren beginnen hastig zu verkaufen. Um daraus Gewinn zu schlagen, setzen die Urheber des Gerüchtes dann beispielsweise den Mechanismus des „ungedeckten Leerverkaufs“ ein. Dabei bieten die Anleger Aktien zum Verkauf an, die sie nicht besitzen. Weil sie die Papiere gar nicht erst erwerben, können sie große Mengen einsetzen und so den Druck in Richtung eines niedrigen Preises erhöhen.

Der Profit für den Investor ergibt sich dabei auf folgende Weise: Heute vereinbart der Verkäufer mit einem Käufer, ihm zum Jahresende eine Million Firmenaktien, die gegenwärtig 55 Euro kosten, zum Preis von 50 Euro pro Stück zu liefern. Sinkt der Preis bis dahin wie vom Verkäufer erwartet auf 40 Euro, kann er die Stücke billig kaufen, trotzdem für 50 Euro weitergeben und zehn Euro Gewinn pro Aktie einstreichen. Derartige Wetten funktionieren nicht immer, aber häufig. Es locken Gewinnaussichten von hunderten Millionen Euro oder auch Milliarden – je nach Umfang der eingegangenen Verkaufsverpflichtung.

Erfunden wurde das Instrument des Leerverkaufs allerdings nicht, um irgendwem zu schaden. Es kann auch sinnvoll eingesetzt werden. Die Käufer von Wertpapieren oder Gütern lassen sich auf diese Geschäfte ein, weil sie damit einen bestimmten Kaufpreis für die Zukunft fest vereinbaren können. Sie schützen sich damit gegen die unangenehme Überraschung großer Preissteigerungen. Problematische Wirkungen können die Leerverkäufe jedoch dann auslösen, wenn es nicht mehr um die Absicherung realwirtschaftlicher Geschäfte geht, sondern um die reine Finanzspekulation.

Eine solche Situation sahen die Aufsichtsbehörden von vier Staaten im August gekommen. Als die Wetten auf fallende Preise unter anderem bei der Société Générale aufgingen, schritten Frankreich, Italien, Spanien und Belgien ein und verboten bestimmte Arten von Leerverkäufen. Die deutsche Finanzaufsicht BaFin hatte einige dieser Geschäftsmodelle bereits im Mai 2010 untersagt.

Ob diese Maßnahmen etwas bringen, ist schwer zu sagen. Die Aufsichtsbehörden und Regierungen argumentieren, ohne die Verbote wäre die Spekulation noch heftiger ausgefallen. Der Landesbank-Analyst ist skeptischer: Er beschreibt, wie die Investoren auf andere Mechanismen ausweichen. Seien beispielsweise Leerverkäufe von bestimmten Bankaktien verboten, könnten die Anleger die Kurse auch mit Hilfe anderer Wertpapiere nach unten treiben – etwa mittels so genannter Dax-Futures, Papieren, die die künftige Wertentwicklung des Deutschen Aktienindexes abbilden. Ein richtiger Einwand – wobei sich die Wirkung von Leerverkaufsverboten vermutlich steigern ließe, wenn diese Regulierung auf möglichst viele Staaten und verwandte Produkte ausgedehnt würde.

Neben der Gewinnabsicht verfolgten bestimmte Investoren aber auch politische Motive, meint Ökonom Folker Hellmeyer von der Bremer Landesbank. In Fällen wie Société Générale liege die Vermutung nahe, dass Finanzmarktteilnehmer aus den Zentren London und New York einen koordinierten Angriff starteten, um mit europäischen Aktien auch gleich die Eurozone zu destabilisieren. Wer sich genau hinter dieser „globalen Bankenaristokratie“ verbirgt, wie Hellmeyer sie nennt, lässt sich meist nur vermuten.

Denn so mächtig die Finanzmärkte sind, so undurchsichtig erscheinen ihre Geschäfte. Nicht einmal die Finanzaufsicht BaFin verfügt beispielsweise über Zahlen zum Umfang der Leerverkäufe. Eine wesentliche Ursache des Informationsmangels: Schätzungsweise 50 Prozent aller Aktiengeschäfte, 70 Prozent des Derivatehandels und 99 Prozent der Transaktionen mit Staatsanleihen werden nicht an den offiziellen Börsen, sondern im direkten Austausch zwischen Marktteilnehmern abgewickelt. „Diese Geschäfte sind keiner staatlichen Aufsicht zugänglich“, sagt ein Sprecher der Deutschen Börse AG in Frankfurt/ Main. Die Regierungen bekunden immer mal wieder ihre Absicht, auch diesen unregulierten Handel zu kontrollieren, sind damit bisher aber nicht weit gekommen. „Das ist, als wenn man die Fußball-Weltmeisterschaft ohne Schiedsrichter und Fernsehen auf irgendeinem Ascheplatz austrüge“, fasst der Landesbank-Analyst zusammen.

Kasten: Absturz in Minuten

Um rund vier Prozent brach der Deutsche Aktienindex am Donnerstag Nachmittag innerhalb von nur 20 Minuten ein. Das war ein außergewöhnlicher Absturz, der in dieser Heftigkeit selten vorkommt. Viele Börsenhändler fragten sich, was nun schon wieder los sei. Starke Nachrichten, die die vorübergehende Verkaufswelle hätten auslösen können, suchte man vergebens.

Offenbar hatte ein Gerüchte-Mix für neuerliche Angst gesorgt. Manche Anleger kolportierten fälschlicherweise, Ratingagenturen wollten das Kreditrating Deutschlands senken. Außerdem interpretierten manche den Einstieg des US-Investors Warren Buffett bei der Bank of America als schlechtes Zeichen – offenbar brauche die Bank dringend Geld.

Klar ist aber dies: Schnelle Bewegungen der Börsen nach unten oder oben kommen heute häufiger vor als früher. Ein wichtiger Grund ist die Automatisierung des Handels mit Finanzprodukten. Werden bestimmte Zahlenwerte in der Kursentwicklung über- oder unterschritten, verkaufen die Computer auotmatisch Wertpapiere. Das führt zu Überreaktionen. (Koch)