„Bremsen ist die wahre Kunst“

Wenn die Vorständin den Zugführerschein macht

Schon das Einsteigen ist sportlich. Der Zug steht nicht am Bahnsteig, der Tritt ist in Hüfthöhe. Kein Problem, zumindest nicht für Evelyn Palla. Im Hauptberuf ist sie im Konzernvorstand der Deutschen Bahn zuständig für den Regionalverkehr, an diesem Herbstnachmittag nimmt sie eine Fahrstunde mit einem dreiteiligen ET 442 Talent2, wie der rote Regionalzug offiziell heißt. Es geht vom Betriebsbahnhof Berlin-Lichtenberg zum Bahnhof Grunewald.

Innen ist es etwas frisch, obwohl die Sonne auf den Zug scheint, aber heute sollen auch keine Fahrgäste mitfahren. Bevor es losgeht: Wie kommt die Bahn-Vorständin in den Führerstand? „Das Thema Lokführerschein hat mich fasziniert, seit ich bei der Bahn arbeite“, sagt sie. „Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, im Führerstand zu sitzen. Und auch verstehen, was unsere Mitarbeitenden täglich leisten und was unser Geschäft ausmacht.“

Was für Fahrgäste immer so einfach aussieht – anhalten, Türen auf, Türen zu, anfahren – wirkt ganz anders, wenn man im Führerstand sitzt. Der Zug hat eine ziemlich große Schnauze, die Sicht ist etwas eingeschränkt und im Cockpit gibt es zahlreiche Knöpfe, Schalterm, Displays und Hebel. Dazu der Fußtaster, der während der Fahrt regelmäßig getreten werden muss als Zeichen, dass die Person im Führerstand noch aufmerksam ist. Links vorn der Hebel, mit dem Gas gegeben werden kann.

Der Lokführerschein hat Scheckkartenformat und ähnelt dem Führerschein fürs Auto. Er berechtigt dazu, Loks zu fahren. Aber wer einen hat, muss sich für jeden Zugtyp und für jede Strecke zusätzlich qualifizieren. Deshalb wird Palla heute den ET 442 steuern. Es geht um die Besonderheiten des Führerstands, Diesel- oder Elektroantrieb, um Reibung, Fahr- und Bremsverhalten. „Bremsen ist das Schwierigste, die wahre Kunst des Lokführers“, sagt die Fahrschülerin.

Palla kam 2019 von den Österreichischen Bundesbahnen zur Deutschen Bahn, zunächst als Finanzvorständin für Fernverkehr. Seit Juli 2022 leitet die energische Managerin die Sparte DB Regio und arbeitet im Konzernvorstand. Der Aufsichtsrat hat ihren Vertrag gerade um fünf Jahre verlängert.

Sie ist jetzt eine von fast 20.000 Bahnbeschäftigten, die Züge steuern. Das Gros, etwa 12.800 von ihnen, arbeitet für die bei der Regionalsparte DB Regio, 3700 fahren Güterzugloks bei DB Cargo. Rund 3100 sind in ICE und IC im Fernverkehr unterwegs. Der Frauenanteil betrug Mitte des Jahres 5,3 Prozent.

Unter den Vorstandskollegen ist Palla die einzige mit der Lizenz zum Fahren. Jahrelang beklagte sich etwa die Lokführergewerkschaft darüber, dass das Management an der Spitze des Unternehmens keine Ahnung habe, was unten geleistet werde. Die Chefin fürs Regionalgeschäft weiß es jetzt.

„Die Lokführerausbildung dauert drei Jahre. Quereinsteiger lernen rund ein Jahr“, sagt Palla. Zwischen 900 und 1200 kommen aus anderen Berufen zur Bahn, um künftig Züge zu fahren. „Wir haben unter anderem Ärzte, Mitarbeitende aus der Gastronomie, Menschen, die ihr Leben lang Bahnfans sind und irgendwann tatsächlich ihre Leidenschaft zum Beruf machen.“

Bevor es richtig losgeht, werden alle Bewerberinnen und Bewerber genau geprüft. „Nach dem Eignungstest für physische Fitness, Hör- und Sehvermögen kommt ein Test der geistigen Fitness: Eine vierstündige Prüfung dazu, wie gut man sich konzentrieren kann, zu Merk- und Reaktionsfähigkeit“, erinnert sich Palla. „Die Prüfung ist wirklich hart, muss es aber auch sein. Als Lokführerin hat man schließlich Verantwortung für die Fahrgäste.“ Sonderregeln für die Vorstandsfrau gab es jedenfalls nicht.

Palla hat den Führerschein berufsbegleitend gemacht, eher untypisch bei der Bahn, aber auch der Tatsache geschuldet, dass sie als Mitglied des Konzernvorstands nicht einfach zwölf Monate Auszeit nehmen konnte. Die Arbeit bleibt ja sonst liegen. „Es braucht sehr viel Disziplin und starken Willen, um den Führerschein nebenbei zu machen“, sagt sie. „Das hat die Abende und Wochenenden gefressen. Aber ich habe es wirklich gern gemacht.“ Gelernt und Fahrpraxis gewonnen hat die Vorstandsfrau in und um Frankfurt/Main, wo die Zentrale der Bahn-Nahverkehrssparte sitzt.

Die DB-Regio-Chefin bezieht ein Konzernvorstandsgehalt, zusätzlich Geld gibt es nicht, wenn sie sich in den Führerstand setzt. Wer hauptberuflich als Lokführer arbeitet, verdient im Staatskonzern zwischen 45.000 und 56.000 Euro einschließlich Zulagen, je nach Berufserfahrung und ob sie im internationalen Verkehr fahren oder als Ausbilder eingesetzt werden. Ein Azubi bekommt je nach Lehrjahr zwischen knapp 13.500 Euro und 17.200 Euro im Jahr, dazu können Zulagen kommen. Letztere gibt es zum Beispiel für Wochenenddienste oder Nachtschichten. Und die Bahn garantiert die Übernahme, denn Lokführer sind gefragt.

Um weiter fahrfähig zu bleiben, müssen alle Führerscheinbesitzer jedes Jahr mindestens 100 Stunden oder zwölf Schichten mit dem Zug unterwegs sein sowie regelmäßige trainieren, auch am Simulator. Alle drei Jahre prüft der Betriebsarzt die Tauglichkeit, wer älter als 55 Jahre ist, wird jährlich gecheckt. Diese Regeln gelten auch für Palla.

Aber jetzt geht es erst einmal auf die Strecke mit dem roten ET 442, 56 Meter lang, 114 Tonnen Gewicht, Höchstgeschwindigkeit 160 Kilometer pro Stunde. Nach Grunewald. Auf welchen Strecken die Vorständin demnächst unterwegs sein könnte, womöglich mit Fahrgästen, hat die Bahn nicht verraten.