„Weniger Wachstum, aber keine Rezession“

Ein Konjunkturprogramm könne Griechenland helfen, nicht Deutschland, so DIW-Ökonom Dreger

Hannes Koch: Die Deutschen haben sich endlich mal entspannt. Weil die Wirtschaft gut läuft und es zusätzliche Arbeitsplätze gibt, sind sie nicht mehr so ängstlich, haben Umfragen im Sommer ergeben. Doch jetzt soll alles schon wieder vorbei sein. Kommt die nächste Wirtschaftskrise?

Christian Dreger: Nein. Es hat keinen Sinn, die Entwicklung zu dramatisieren. Im 3. Quartal diesen Jahres wird die Wirtschaft wachsen. Danach fällt der Zuwachs allerdings nur noch bescheiden aus. Aber dass es zu einer Rezession, also einer Schrumpfung der Wirtschaft über mindestens zwei aufeinanderfolgende Quartale kommt, nehmen wir nicht an.

Koch: Woran liegt es denn, dass die sich guten Aussichten so schnell eintrüben?

Dreger: Die konjunkturelle Entwicklung in den USA hat sich abgeschwächt. Die Amerikaner konsumieren weniger, die Unternehmen verkaufen weniger und stellen kaum Arbeitskräfte ein. Die schwache Dynamik belastet auch die Weltwirtschaft, denn die USA sind immer noch die größte Ökonomie des Globus.

Koch: Und in Europa?

Dreger: Hier leiden wir unter der hohen Staatsverschuldung. Viele Regierungen sparen, um weniger Kredite aufnehmen zu müssen. Dadurch wird die Nachfrage kurzfristig geringer. Den Unternehmen fehlen Aufträge. Zwar nicht unbedingt in Deutschland, aber in vielen anderen EU-Staaten. Hinzu kommt die hohe Unsicherheit, die sich aus der noch nicht gelösten Schuldenkrise ergibt.

Koch: Vor wenigen Wochen prognostizierten viele deutsche Wirtschaftsforscher für das kommende Jahr über zwei Prozent Wachstum. Jetzt senken sie ihre Vorhersagen urplötzlich auf ein Prozent, obwohl wenig Neues passiert ist – außer dass jetzt mehr Leute mehr Angst vor der Zukunft haben.

Dreger: Die Lage hat sich durchaus zum Schlechteren verändert. Für Griechenland rechnet man jetzt damit, dass die Wirtschaft dieses Jahr um fünf Prozent schrumpft. Ältere Prognosen waren optimistischer. Deshalb wird den Deutschen nun klar, dass auch das zweite Rettungspaket für Athen nicht das letzte sein könnte.

Koch: Wechseln sich Aufschwung und Abschwung neuerdings schneller ab, oder täuscht dieser Eindruck?

Dreger: Diese Wahrnehmung ist nicht nicht ganz falsch. Seit Beginn der 2000er Jahre geht es in kürzeren Rhythmen stärker auf und ab als zuvor. Davor verlief die Entwicklung gleichmäßiger, die wirtschaftlichen Zyklen waren länger.

Koch: Vielleicht trägt auch die Wirtschaftswissenschaft ihren Teil zu dieser Kurzatmigkeit bei. Orientieren sich Ökonomen mittlerweile zu sehr an psychologischen Indikatoren, die die Erwartungen von Marktteilnehmern messen, anstatt ihren Vorhersagen Basisdaten wie Preise, Importe und Exporte zugrundezulegen?

Dreger: Die Bankenkrise von 2007 und den von ihr ausgelösten heftigen Absturz haben unsere Prognosemodelle nicht richtig angezeigt. Daraus haben wir den Rückschluss gezogen, mehr kurzfristige Indikatoren einzubeziehen. Dazu gehört beispielsweise die Stimmung der Konsumenten und der Industrie. Für die Prognosen des DIW werten wir mittlerweile eine hohe Zahl an Stimmungsindikatoren aus, um einen Trend zu ermitteln – wobei aber die Analyse der ökonomischen Basis nach wie vor die wichtigste Rolle spielt.

Koch: Neigen Ökonomen neuerdings dazu, mögliche Risiken zu überzeichnen und damit zu verstärken, indem sie zu sehr auf die Hoffnungen und Ängste der Menschen vertrauen?

Dreger: Man muss bedenken, dass momentane Stimmungen völlig in die Irre führen können. Ein Absturz der Aktienkurse an den Börsen kann ein Ausreißer sein oder der Beginn einer längeren Talfahrt. Kurzfristige Phänomene darf man nicht überbewerten. Der Erkenntnisgewinn für die Zukunft ist oft begrenzt.

Koch: Jenseits der neuen Rezessionsängste melden wichtige Branchen der Wirtschaft wie Maschinenbauer und Autohersteller, dass sie auch für 2012 jede Menge Aufträge haben. Diesen Zahlen aus dem realen Wirtschaftsleben scheinen nicht auf eine neue Konjunkturkrise hinzudeuten.

Dreger: Die Auftragseingänge sind ebenfalls kein optimaler Indikator, um die Zukunft zu beschreiben. Denn Aufträge kann man auch wieder stornieren. Trotzdem ist es richtig: Die Auftragseingänge der Industrie deuten gegenwärtig zwar auf ein etwas schwächeres Wachstum hin, aber keinesfalls auf eine Rezession.

Koch: Trotzdem plädieren Christine Lagard, die Chefin des Internationalen Währungsfonds, und US-Finanzminister Timothy Geithner für ein europäisches Konjunkturprogramm. Mehr öffentliche Investitionen und Ausgaben sollen verhindern, dass die Wirtschaft abermals so abstürzt wie nach dem Zusammenbruch der Lehman-Bank 2008. Ein guter Vorschlag?

Dreger: Für Griechenland hat das DIW schon vor Monaten Stützungsmaßnahmen vorgeschlagen. Die bisherige Sparpolitik alleine wird dort nämlich nicht zum Erfolg führen. Stattdessen sollte die EU gezielt Zukunftsinvestitionen unterstützen, die Arbeitsplätze und Wohlstand generieren. Man könnte auch daran denken, Sonderwirtschaftszonen einzurichten, um neue Unternehmen anzusiedeln.

Koch: Brauchen Deutschland und andere Euro-Staaten ebenfalls einen ökonomischen Impuls?

Dreger: Auch in Portugal könnte dies hilfreich sein. Was die gesamte EU betrifft, sehe ich gegenwärtig aber keine Notwendigkeit für ein Konjunkturprogramm. In Deutschland ist der Beschäftigungsstand sehr hoch und die Inflation leicht überdurchschnittlich. Zusätzliche Staatsausgaben würden die Nachfrage erhöhen und die Preise nach oben treiben, auch die Kosten der Arbeit. In anderen Ländern wie Italien würden mehr öffentliche Investitionen die ohnehin hohen Zinsen weiter anheben und es den Unternehmen damit erschweren, Kredite zu bekommen.

Koch: Wagen Sie eine Prognose: Bekommen wir die Schuldenkrise bald in den Griff?

Dreger: Die Regierungen haben anderthalb Jahre mehr oder weniger abgewartet, ohne eine Lösung zu finden. Nur mit Sparen wird man die Schulden aber nicht ausreichend verringern. Deshalb halten wir einen Schuldenschnitt für notwendig. Europa muss etwa 50 Prozent der griechischen Schulden annulieren. Erst dann kann es wieder aufwärts gehen.

Christian Dreger (52) leitet seit 2008 die Konjunkturabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.