„Fünf Euro reichen nicht“

Hartz IV: Die Union vernachlässige den sozialen Ausgleich, sagt der Philosoph Friedhelm Hengsbach. Die sozialethische Rechtfertigung dieser Politik sei fehlerhaft

Hannes Koch: Morgen verhandeln Regierung und Opposition abermals über bessere Hartz-IV-Leistungen. Warum halten Sie das bisherige Angebot von Union und FDP für unzureichend?

Friedhelm Hengsbach: Das Bundesverfassungsgericht bezweifelt, dass Haushalte mit Kindern, die von Hartz IV leben müssen, damit ihr menschenwürdiges Existenzminimum finanzieren können. Es geht auch darum, deren Recht auf Beteiligung am sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Der Zuschlag von fünf Euro, den die Regierung gewähren will, reicht dafür nicht.

Koch: Argumentieren SPD, Grüne und Linke plausibel, wenn Sie das Arbeitslosengeld II stärker anheben wollen?

Hengsbach: Die Opposition stützt sich auf die Einschätzungen der Wohlfahrtsverbände. Diese haben engen Kontakt zu den Betroffenen. Deshalb nehme ich an, dass die Argumente zutreffen, der Regelsatz bei Hartz IV liege heute um mindestens 50 Euro pro Monat zu niedrig.

Koch: Am Montag veranstaltete die Union einen Kongress über Sozialethik. Sowohl die evangelische, als auch die katholische Soziallehre kennt das Prinzip, dass jeder Mensch zunächst einmal für sich selbst verantwortlich ist. Die kärgliche Hartz-Förderung sollte diesem Prinzip Rechnung tragen – offenbar mit Erfolg: Mehr Menschen haben sich neue Jobs gesucht.

Hengsbach: Diesen Zusammenhang bestreite ich. Zwar sinkt die Arbeitslosigkeit. Aber warum? Im Aufschwung richten die Unternehmen neue Arbeitsplätze ein, weil die Nachfrage nach ihren Produkten wächst.

Koch: Jeder sechste Deutsche ist arm oder von Armut bedroht. Das klingt hart, erscheint aber im internationalen Vergleich moderat. Ist die Debatte über die zunehmende soziale Spaltung in Deutschland übertrieben?

Hengsbach: Nein, man darf die Armut in Deutschland nicht mit der in Bangladesch vergleichen. Entscheidend ist, dass hierzulande der Abstand zwischen unten und oben in einer Weise zunimmt, die als ungerecht empfunden wird. Diese Schieflage der Einkommens­verteilung ist durch die Steuerpolitik verursacht und dadurch, dass Arbeitsverhältnisse mutwillig prekär gemacht wurden.

Koch: Die Union reklamiert für sich eine „auf dem christlichen Menschenbild beruhende Sozialpolitik“. Kann die Partei diesen Anspruch erfüllen?

Hengsbach: So, wie sie es anstellt, nicht. Der Kongress ist eine Wahlkampf-Initiative in Richtung eines katholisch-konservativen Wählerspektrums. Inhaltlich stolpert die Union in einen Kategorienfehler. Sie verengt ein säkulares, von ihr christlich eingefärbtes Prinzip der Menschenwürde auf Freiheit und Eigenverantwortung. Dann kann sie die soziale Gerechtigkeit spielend leicht im wirtschaftsliberalen Interesse umdeuten.

Koch: Wie sollte sich die Union stattdessen verhalten?

Hengsbach: In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft lautet die normative Antwort: Der Grundsatz gleicher Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt der Politik. Konkret bedeutet dies, dass die Geltung von Tarifverträgen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden wieder gefestigt wird. Wenn in Ostdeutschland nur noch rund 50 Prozent, im Westen zwei Drittel der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst werden, müsste die Regierung solche Verträge für allgemeinverbindlich erklären. Dann würden sie für alle Unternehmen und Arbeitnehmer gelten. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Branchenbezogene Mindestlöhne sollten gesetzlich verankert werden.

Bio-Kasten

Friedhelm Hengsbach

Der 73jährige Theologe gilt als führender katholischer Sozialethiker. Er leitete bis 2006 das Oswald-von-Nell-Breuning-Institut der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt/ Main. Seit zwei Jahren lebt er in der Jesuitengemeinschaft Ludwigshafen.

Info-Kasten

CDU-Kongress zu Sozialethik

Die Bundestagsfraktion der Union veranstaltete am Montag ihren Kongress „Christliches Menschenbild und soziale Marktwirtschaft“. Mit führenden Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche wollte man unter anderem Konsequenzen aus der Finanzkrise debattieren.