Auf Kosten anderer

Der G20-Gipfel in Seoul streitet darüber, ob China, die USA und Deutschland ihre Handelspartner schädigen

Südkorea gilt unter Kennern als das Paradies der Telekommunikation. Dank superschneller Datenleitungen kann man angeblich auch im letzten Dorf komplizierte Grafiken und lange Spielfilme innerhalb kurzer Zeit auf den eigenen Computer herunterladen.

Und in Deutschland? Da ist das Internet in Dörfern der Schwäbischen Alp armselig langsam, oder in brandenburgischen Kleinstädten fehlen die Datenleitungen gleich ganz. Beim schnellen Transport von Daten ist Deutschland Entwicklungsland.

Südkorea hat in diesem Bereich viel Geld investiert, Deutschland bislang zu wenig. Dieser auf den ersten Blick unbedeutende Widerspruch beschreibt ein Kernproblem, dass die Regierungschefs der 20 wichtigsten Wirtschaftsnationen ab Donnerstag in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul verhandeln.

Beim G20-Gipfel geht es um die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft, die auch nach der Finanzkrise fortbestehen und, so die Befürchtung, der nächsten Krise Vorschub leisten könnten. Ungleichgewicht Nummer Eins: In manchen Ländern ist die Binnennachfrage zu gering, sie exportieren zu viele Waren nach außen. Deutschland steht in dieser Hinsicht unter Druck – zusammen mit China und Japan. Diesen Staaten wird vorgeworfen, dass sie ihre Nachbarn schädigen, indem sie ihnen zu große Marktanteile auf dem Weltmarkt wegnehmen.

Ungleichgewicht Nummer Zwei: Andere Staaten manipulieren die Kurse ihrer Währungen künstlich nach unten, um infolge der dann günstigeren Exportpreise mehr Waren im Ausland verkaufen zu können. Dieser Vorwurf geht an China und die USA. Gerade erst hat die US-Notenbank Fed beschlossen, weitere 600 Milliarden US-Dollar auf den Markt zu werfen, um die lahmende US-Wirtschaft zu unterstützen. Durch diese Geldschwemme fühlen sich G20-Mitglieder wie Brasilien, Indien und Südkorea bedroht, die befürchten, dass sich bei ihnen Finanzblasen bilden.

Was aber ist von dem an Deutschland gerichteten Vorwurf zu halten? US-Finanzminister Timothy Geithner und Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde meinen, dass Deutschland einen zu großen Teil seiner Einnahmen in die Förderung des Exportes stecke. Deutsche Unternehmen zahlten ihren Beschäftigten beispielsweise zu geringe Löhne, womit sie den Preis der Exportprodukte zu niedrig hielten. Und es werde in Deutschland zu wenig investiert, was ebenfalls die Kosten drücke. Das Ergebnis, so Geithner, sei unfaire Konkurrenz gegenüber anderen Staaten.

Was das konkret heißt, erklärt Ökonom Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie: „Die Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen waren zwischen 2000 und 2006 schwach.“ In dieser Zeit haben die deutschen Firmen jährlich bis zu zehn Prozent weniger für neue Anlagen und Maschinen ausgegeben. Hier machte sich die Flaute nach dem Internetcrash bemerkbar.

Trotzdem stieg der deutsche Exportüberschuss an. 2002 lag er bei zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts, 2006 schon bei sechs Prozent. Den hiesigen Firmen gelang es, immer mehr Waren im Ausland abzusetzen. Wie konnte es dazu kommen, wenn die Wirtschaft doch weniger Mittel in bessere und schnellere Produktion investierte als vorher? Geringe Investitionen sparen vorübergehend Geld und können sich deshalb in niedrigen Preisen niederschlagen – wie auch stagnierende Löhne. So sagt Ökonom Horn, dass die Unternehmen sich ebenso „Vorteile verschafften, indem sie die Lohnkosten niedrig hielten.“ Es war die Zeit der hohen Arbeitslosigkeit und der Hartz-Reformen, jahrelang stiegen die Durchschnittslöhne nicht mehr, sondern sie fielen.

Für Deutschlands Handelspartner hatte diese Entwicklung teilweise problematische Folgen. Sie kauften deutschen Firmen mehr Produkte auch deshalb ab, weil deren Preise kaum noch zunahmen. So floss mehr Kapital nach Deutschland. Hier herrscht seitdem Kapitalüberschuss, in Staaten wie Griechenland oder den USA dagegen Kapitalmangel. Um diesen auszugleichen, müssen sich diese Länder verschulden. Ungleichgewichte im Handel können auf diese Art zu Krisen auf den Finanzmärkten beitragen.

Dass diesem Problem vor allem die gesunkenen deutschen Löhne zugrunde lägen, weisen die Bundesregierung und die Wirtschaftsverbände hartnäckig zurück. Neu ist jedoch, dass sie in der Frage der Investitionen einlenken. „Wir zehren von der Substanz“, sagt Hans-Peter Keitel, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Damit meint er, dass die Unternehmen in den vergangenen Jahren weniger investiert haben, als gut gewesen wäre. Zum Beispiel hätten die Energiekonzerne den Ausbau der Stromnetze vernachlässigt, heißt es beim BDI. Ebenso hätten sich die Telekommunikationsfirmen viel Zeit gelassen beim Ausbau der deutschen Datenleitungen.

„Bei den Ausrüstungen ist seit 2000 ein Rückgang zu verzeichnen“, schreibt ebenfalls das Bundesfinanzministerium in einem Argumentationspapier zum G20-Gipfel. „Dies resultierte in einer real geringeren Investitionsquote. Damit hatte die Verringerung der Investitionen einen entscheidenden Anteil an den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen.“ Zahlen belegen dieses Phänomen: Die Nettoinvestitionsquote ist in Deutschland von 10,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1991 auf 1,9 Prozent im Jahr 2009 gesunken. Parallel stieg der Leistungsbilanzüberschuss, die positive Differenz aus hohen Exporten und geringeren Importen, auf bis zu acht Prozent des BIP.

Einen großen Anteil daran hatte die Baubranche. Unter anderem bei „Bauvorhaben der Wirtschaft haben wir einen signifikanten Rückgang verzeichnet“, sagt Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Wegen mangelnder Steuereinnahmen und nachfolgender Sparmaßnahmen reduzierte auch der Staat seine Bauinvestitionen massiv. Insgesamt ging die Bautätigkeit seit 2000 in manchem Jahr um 20 Prozent zurück. Die Dächer von Schulen wurden nicht mehr gedeckt und Wasserleitungen verrotteten.

Nun allerdings ändere sich die Richtung, schreiben die Beamten des Finanzministeriums in ihrem Argumentationspapier – darum bemüht, den Druck der USA und Frankreichs beim G20-Gipfel abzufedern. Nicht nur stiegen die Löhne in Deutschland nach der Finanzkrise erstmals seit Jahren wieder kräftig an. Auch die Investitionen nähmen zu – unter anderem durch den Plan der Bundesregierung, die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015 auf zehn Prozent der Wirtschaftsleistung anzuheben.

Weil diese Argumente nicht aus der Luft gegriffen sind, wird sich US-Finanzminister Geithner mit seiner harten Haltung in Seoul wohl nicht durchsetzen. Vor einigen Tagen hatte er noch verlangt, Leistungsbilanz-Überschüsse auf maximal vier Prozent der Wirtschaftsleistung des jeweiligen Landes zu begrenzen – ein Affront gegen China und Deutschland.

Wenn nun aber tatsächlich die Investitionen steigen sollten – würde Deutschland dann seinen Beitrag zu einer ausgeglicheneren Weltwirtschaft leisten? Einerseits ja: Die Nachfrage im Inland stiege und andere Länder können mehr Produkte nach Deutschland importieren. Dies reduzierte die Gefahr der Überschuldung in Griechenland, Irland oder auch den USA.

Andererseits bliebe auch dann das erfolgreiche deutsche Exportmodell bestehen. Schließlich verkaufen sich Maschinen aus Baden-Württemberg und Fahrzeuge aus Niedersachsen auf dem Weltmarkt nicht in erster Linie deshalb so gut, weil sie billig sind, sondern weil ihnen wegen ihrer Qualität ein guter Ruf vorauseilt. Und die Sache mit den höheren Investitionen hat noch einen zweiten Haken: Bessere Anlagen arbeiten produktiver. Deshalb stoßen sie mehr Produkte in derselben Zeit aus. Die wiederum muss jemand kaufen – auch im Ausland.