Höhere Steuern für Wohlhabende und Reiche hält Ökonom Gert G. Wagner für durchaus tragbar. Statt einer Entlastung der Mittelschicht plädiert er für Investitionen in Bildung
Hannes Koch: Herr Wagner, die Bundesregierung debattiert über die nächste Steuersenkung. Welche ökonomischen Argumente sprechen dafür?
Gert Wagner: Steuern senkt man vor allem, um die Wirtschaft zu beleben. Das ist augenblicklich jedoch nicht notwendig, denn die Konjunktur läuft sehr gut. Deutschland wird auch dieses Jahr ein sattes Wachstum erreichen.
Koch: FDP, CSU und Teile der CDU wollen niedrige und mittlere Einkommen entlasten. Ist es notwendig, dort für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen?
Wagner: Gerechtigkeit ist eine sehr subjektive Kategorie. Deswegen stellt auch alles, was ich dazu sage, meine rein persönliche Meinung dar – ich spreche hier nicht für das DIW. Tatsache ist freilich: Beschäftigte mit kleinen Einkommen zahlen heute keine oder wenig Steuern. Eine Senkung dort würde deshalb kaum Entlastung bedeuten. Spürbar sind dagegen die Sozialbeiträge, die auch bei kleinen Einkommen in voller Höhe erhoben werden. Wenn deshalb Teile der Union und der SPD darüber diskutieren, die Sozialbeiträge im unteren Bereich zu senken, finde ich das nachvollziehbar.
Koch: Enlastungen kosten Geld. Dabei nimmt Finanzminister Schäuble auch dieses Jahr rund 30 Milliarden Euro neue Kredite auf. Erreicht die Verschuldung nicht allmählich die Grenze des Tragbaren?
Wagner: Sicherlich ist es vernünftig, die Schulden nach der Finanzkrise wieder zu senken. Aber Überschuldung? Nein. Kein einziger Indikator zeigt an, dass ein deutscher Staatsbankrott zu erwarten wäre. Weder befürchten das die Investoren, die deutsche Staatsanleihen kaufen, noch hat unser Staat irgendwelche Probleme, die Zinsen zu zahlen. Außerdem könnten wir mit wenigen Federstrichen unsere Einnahmesituation entscheidend verbessern. Denn die Belastung der oberen Einkommen liegt international betrachtet nur im Mittelfeld. Wenn sich die Regierung entschließen würde, die Steuern für hohe Einkommen oder die Erbschaftssteuer zu erhöhen, könnten wir die Schuldenlast abbauen und zumindest ein wenig mehr investieren.
Koch: Ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent, wie er früher existierte, wäre also heute nicht schädlich?
Wagner: Ich persönlich halte das für grundsätzlich tragbar – ohne mich für diesen Prozentsatz aussprechen zu wollen. Die Politik muss selbst entscheiden, für welchen Steuertarif sich eine Mehrheit finden lässt.
Koch: Das DIW hat in den vergangenen Jahren mehrmals analysiert, dass die Mittelschicht schrumpfe. Ist es deshalb nicht nachvollziehbar, sie entlasten zu wollen?
Wagner: Sicher: Der Anteil der mittleren Einkommen im Vergleich zu den unteren und oberen Schichten hat in den vergangenen zehn Jahren abgenommen. Deswegen ist die deutsche Mittelschicht als soziale Kategorie aber noch lange nicht in ihrem Bestand gefährdet. Das Anwachsen niedriger Einkommen und die Dauerarbeitslosigkeit in bestimmten Schichten sind die eigentlichen Probleme. Und da helfen ein paar Euro mehr im Monat für die Mittelschicht gar nicht. Viel besser wäre es deshalb, das Geld dafür ausgeben, die öffentliche Infrastruktur zu verbessern.
Koch: Ist der Staat in den vergangenen 25 Jahren zu mager geworden?
Wagner: Das meine ich allerdings. Schauen Sie sich nur die Infrastruktur an. Viele Schul- und Universitätsgebäude sind in jämmerlichem Zustand. Von den Straßen und Bürgersteigen beispielsweise in Berlin ganz zu schweigen. Die Erkenntnis drängt sich auf: Es gibt legitime Aufgaben des Staates, und die müssen auch finanziert werden.
Koch: Die Regierung hat bereits mehrere Milliarden-Programme aufgelegt, um Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten besser auszustatten. Warum ist jetzt noch mehr Geld nötig?
Wagner: Bildung schützt vor Arbeitslosigkeit. Wir wissen, dass die Arbeitslosenquote in Deutschland nur bei den An- und Ungelernten dramatisch gestiegen ist. Abiturienten haben dagegen praktisch die gleichen Chancen wie früher. Was nicht verwunderlich ist: Unsere exportorientierten Industrie- und Dienstleistungsfirmen brauchen gut ausgebildete Beschäftigte.
Koch: Aktuelle Umfragen ergeben, dass nur noch eine Minderheit der Bundesbürger für Steuersenkungen plädiert. Wie erklären Sie diesen Stimmungswandel?
Wagner: Die Menschen erkennen, dass der Staat Steuern einnehmen muss. Einzelne Vermögende verlangen sogar, die Regierung solle sie und Ihresgleichen stärker zur Kasse bitten. Diesen Steuerzahlern ist klar, wie sehr ihre hohen Einkommen auf der guten Bildung basieren, die sie im öffentlichen Schulsystem erhalten haben. Und sie wissen, dass ererbtes Vermögen – auch wenn es für manchen eine Bürde darstellt – im wahrsten Sinne des Wortes unverdient ist.
Bio-Kasten
Gerd G. Wagner (58) leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Gleichzeitig arbeitet er als Professor für Volkswirtschaftslehre und empirische Wirtschaftsforschung an der Technischen Universität Berlin. Er sitzt in zahlreichen Beiräten und Beratungsgremien, unter anderem bei der Evangelischen Kirche.
Info-Kasten
Steuern und Haushalt
Laut Unionsfraktionschef Volker Kauder will die Koalition im Herbst ausloten, welche Steuersenkung sie für 2013 beschließt. Ein Bestandteil ist sehr wahrscheinlich: Der Grundfreibetrag von 8004 Euro für Erwachsene könnte steigen, weil die Lebenshaltungskosten zunehmen und der Staat das Existenzminimum steuerfrei stellen muss. Finanzminister Wolfgang Schäuble argumentiert öffentlich zwar gegen eine Steuersenkung, schafft aber einen Spielraum, um sie zu ermöglichen. Nach einer Neuverschuldung des Bundes von rund 30 Milliarden Euro in diesem Jahr, soll die Kreditaufnahme 2012 laut Haushaltsentwurf 27,5 Milliarden betragen. Vermutlich könnte sie wegen der guten Konjunktur aber eher bei 20 Milliarden liegen. Sieben bis acht Milliarden Euro stünden also für eine Entlastung zur Verfügung.