Ausnahmsweise einig: Wirtschaftsforscher aller Strömungen raten zu Lohnsteigerungen von durchschnittlich drei Prozent in 2011. Bezahlung im deutschen Dienstleistungssektor liegt unter dem europäischen Durchschnitt
Ökonomen ermuntern die deutschen Arbeitnehmer und Gewerkschaften, mehr Lohn zu verlangen. Erhöhungen um drei Prozent pro Jahr würden die Wirtschaft nicht schädigen, sondern seien im Gegenteil sinnvoll, sagen sowohl unternehmens- wie gewerkschaftsnahe Forscher. Im europäischen Vergleich sind die deutschen Lohnkosten immer noch niedrig.
„Der Verteilungsspielraum liegt in diesem Jahr bei einem Lohnzuwachs von durchschnittlich drei Prozent“, sagt Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. „Dies wäre kein Übel, wenngleich eine etwas geringere Steigerung den Firmen und dem Arbeitsmarkt zugute käme.“ Ähnlich sieht das sein Kollege Ferdinand Fichtner von Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. „Eine Lohnsteigerung von durchschnittlich drei Prozent würde die Unternehmen nicht überfordern“, so Fichtner. Und Gustav Adolf Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie (IMK) in Düsseldorf legt noch etwas drauf: „Der effektiv ausgezahlte Lohn sollte um drei bis 3,5 Prozent zunehmen.“
Die neue Einigkeit beruht darauf, dass Ökonomen der sonst zerstrittenen Richtungen inzwischen der Binnennachfrage eine größere Bedeutung beimessen. Selbst FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle befürwortet mittlerweile höhere Löhne, weil sie die Konsumlust der Bürger und das Wachstum unterstützten.
Der Lohnzuwachs von drei Prozent, so meinen die Ökonomen, sollte im Durchschnitt der Wirtschaft erzielt werden. Ob das in diesem Jahr gelingt, ist allerdings fraglich. Denn in wichtigen Branchen, wie etwa der Metallindustrie, finden vorerst keine umfassenden Tarifverhandlungen statt. So verhandeln die Metaller nur für die ostdeutsche Stahlindustrie. Und bei der Bahn lag der Abschluss des neuen Tarifvertrages unter zwei Prozent pro Jahr.
Die deutschen Arbeitnehmer könnten durchaus mehr Lohn erhalten, ohne die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu gefährden. Ein neuer europäischer Vergleich des Instituts für Makroökonomie zeigt, dass die deutschen Lohnkosten nicht zu hoch sind. In der hiesigen Privatwirtschaft erhielten Beschäftigte 2009 demnach durchschnittlich 29 brutto pro Arbeitsstunde – 60 Cent mehr als der Durchschnitt des Euroraumes. Spitzenreiter mit 37,20 Euro weit vor Deutschland ist Belgien, dann folgen Dänemark, Frankreich, Luxemburg, Schweden und die Niederlande.
Bei den Arbeitskosten pro Stunde im verarbeitenden Gewerbe liegt Deutschland deutlich über dem europäischen Durchschnitt, im Dienstleistungsbereich aber darunter. Seit 2000 und auch während der Finanzkrise sind die Arbeitskosten in Deutschland weniger stark gestiegen, als im europäischen Durchschnitt.
Die Ökonomen leiten daraus ab, dass ein kräftiger Lohnzuschlag die deutsche Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland nicht gefährden würde. Die Faustformel für eine Lohnerhöhung sieht so aus: Inflationsausgleich von etwa zwei Prozent plus Beteiligung am Zuwachs der Leistungsfähigkeit (Produktivität) von einem Prozent macht drei Prozent.
Nicht nur DIW-Mitarbeiter Fichtner weist allerdings daraufhin, dass die Lohnsteigerung von Branche zu Branche unterschiedlich ausfallen müsse. So könne die erfolgreiche Exportwirtschaft mehr leisten als drei Prozent, während viele Unternehmen beispielsweise des Einzelhandels dazu nicht in der Lage seien.