Normalität oder Ausnahme

Immer mehr Menschen würden gegen Hartz IV klagen, erklärt das größte deutsche Sozialgericht in Berlin. Stimmt nicht, sagt dagegen die Arbeitsagentur. Im Vergleich zum Zustand vor den Hartz-Reformen habe die Zahl der Kläger kaum zugenommen

Noch immer empfinden viele Menschen die Hartz-Reformen als ungerecht. Die Widersprüche und Klagen besonders gegen die Hartz-IV-Bescheide nehmen auch deshalb weiter zu. Gestern veröffentlichte das Berliner Sozialgericht, das größte Deutschlands, neue Zahlen: Alleine im Jahr 2010 seien rund 32.000 Klagen gegen die Bescheide der Bundesagentur für Arbeit eingegangen.

„An der Nordsee folgt auf die Flut die Ebbe“, sagte Sabine Schudoma, die Präsidentin des Sozialgerichts, „hier steigt die Klageflut Tag und Nacht.“ 2009 waren 27.000 Klagen eingegangen, 2005 beschwerten sich nur 7.000 Bürger über die Hartz-Leistungen beim Berliner Sozialgericht.

Den Ansturm führt Schudoma auf die hohe Zahl von Bescheiden durch die Bundesagentur zurück. Diese genehmigt die finanziellen Leistungen halbjährlich. Durch den kurzen Rhythmus steige die Fehlerquote, erklärte die Präsidentin. Die Klagen richten sich überwiegend gegen die aus der Sicht der Betroffenen zu niedrigen Zahlungen durch die Bundesagentur.

Zudem sei Berlin die „Hauptstadt der Aufstocker“, so Schudoma. Viele geringfügig Beschäftigte oder schlecht bezahlte Arbeitnehmer in der vergleichsweise armen Metropole beantragen zusätzliche Sozialleistungen, mit denen sie ihren kärglichen Verdienst aufbessern. Auch diese komplizierten Berechnungen seien fehleranfällig, sagte die Präsidentin.

Demgegenüber ist die Sichtweise der Bundesagentur, deren Mitarbeiter die Hartz-IV-Bescheide erteilen, eine grundsätzlich andere. Die Zahl der Klagen habe nur wenig zugenommen, sagte Sprecherin Anja Huth: „Gemessen an der Zahl der Leistungsbezieher bewegen wir uns bei der Zahl der Klagen auf dem Niveau des Systems vor „Hartz IV“. Der Eindruck der höheren Zahl entstehe dadurch, dass früher die Sozial- und Verwaltungsgerichte zuständig gewesen seien. Heute dagegen, so Huth, konzentriere sich die Hartz-Rechtsprechung an den Sozialgerichten.

Angesichts von über 25 Millionen Leistungsbescheiden der Agentur seien 2009 nur 143.000 Klagen erhoben worden, so Huth. Dies entspricht knapp 0,6 Prozent. In 50.000 Fällen haben die Gerichte den Klägern Recht gegeben, erklärte Huth. In der Lesart der Bundesagentur bedeutet diese zweierlei: Erstens arbeiteten die Berater nicht schlecht, und zweitens empfänden die Bürger das neue System nicht als ungerechter als das alte.