„Wir rufen nicht zum großen Verzicht auf“

Aber die Deutschen sollten ihr Wohlstandsmodell überdenken, sagt Klaus Töpfer, Chef der Ethikkommission, zur Veröffentlichung des Ausstiegsgutachtens

Hannes Koch: Die Bundesregierung peilt den Atomausstieg bis zum Jahr 2022 an. Die Ethikkommission hält den Ausstieg dagegen innerhalb von zehn Jahren für machbar, unter bestimmten Bedingungen sogar eher. Will sich die Bundesregierung zu viel Zeit lassen?

Klaus Töpfer: Die Regierung wird ihr Konzept noch beraten und präzisieren. Unserer Kommission kommt es auf ein festes Datum an. Dieses haben wir mit 2021 benannt. Vor allem bin ich froh, dass das Votum der Ethikkommission im Prozess der Formulierung des neuen Enrgiekonzeptes eine wichtige Rolle spielt.

Koch: Was ist das wesentliche ethische Argument, mit dem die Kommission ihre Ausstiegsempfehlung begründet?

Töpfer: Bevor die Gesellschaft bestimmte ökonomische und technische Lösungen auswählt, muss sie Wertentscheidungen treffen. Dazu gehört die Abwägung der möglichen Folgen der verschiedenen Technologien. Hier plädieren wir für einen Weg der Energieversorgung, der geringere Risiken beinhaltet als die Atomkraft. Wenn es eine Wahl zwischen großen und kleineren Risiken gibt, sollten wir das geringere wählen.

Koch: Grundsätzlich sind die Gefahren der Kernenergie seit den Unfällen von Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986 bekannt. Inwiefern haben sich Lage und Einschätzung seitdem verändert?

Töpfer: Die Größe eines Risikos bemisst sich auch an der Risikowahrnehmung. Diese hat sich durch die dramatischen Ereignisse von Fukushima stark gewandelt. Wir haben gesehen, dass selbst ein technologisch führendes Land wie Japan Atomunfälle nicht beherrscht. Hinzu kommt, dass wir nach der Katastrophe von Tschernobyl, als ich selbst Bundesumweltminister war, nicht über die technologischen Alternativen verfügten, die wir heute haben. Nach Jahrzehnten der intensiven Forschung und Entwicklung besteht jetzt die Chance, unseren Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen wie Wind und Sonne zu decken.

Koch: Wie man an Fukushima sieht, sind die ökonomischen Kosten eines Atomunfalls so hoch, dass diese weder Energieunternehmen noch Versicherungen tragen wollen oder können. Spielte es bei Ihren Überlegungen eine Rolle, dass die Wirtschaft in diesem Sinne keine Verantwortung für ihr Handeln übernimmt?

Töpfer: Das ist ein wichtiges Argument. Wenn Teile der möglichen Kosten nicht zu versichern sind und deshalb nicht in die betriebswirtschaftliche Rechnung eingehen, führt das dazu, dass die Risiken systematisch unterschätzt werden.

Koch: Kein anderes Land der Welt peilt einen so schnellen Ausstieg aus der Atomkraft an, wie er sich nun in Deutschland abzeichnet. Ist das nicht eine neue Erscheinungsform der von unseren Nachbarn oft belächelten German Angst?

Töpfer: Wir sehen in dem Weg, den wir vorschlagen, weniger einen Ausdruck übertriebener Furcht, als vielmehr die Chance, eine zukunftsträchtige Entwicklung zu verstärken. Bei den erneuerbaren Energien ist Deutschland ja heute schon einer der Vorreiter weltweit. Darin liegt eine enorme ökonomische Chance. Verfolgen wir diese Strategie konsequent weiter, wird sie uns künftig Wohlstand und Arbeitsplätze sichern.

Koch: Sie sprechen von der großen „Transformation“ des Energiesystems, die jetzt kommen müsse. Können wir grundsätzlich einfach so weitermachen wie bisher – vom Austausch der Energiequellen abgesehen?

Töpfer: Nein, es ist ratsam, unser bisheriges Wohlstandsmodell zu überdenken, das auf permanentem Zuwachs basiert. Damit rufen wir wohlgemerkt nicht zum großen Verzicht auf. Aber viele Menschen sind schon dabei, ihren Lebensstil anzupassen. Sie achten darauf, weniger Energie zu verbrauchen, anstatt mehr. Sie kaufen regionale Produkte und ändern ihr Mobilitätsverhalten. Anstatt mit dem Auto kann man sich auf manchen Strecken auch mit dem Rad oder zu Fuß fortbewegen.

Koch: Heute ist unsere Energieversorgung wesentlich durch große Kraftwerke und zentrale Strukturen geprägt. Wird es später eine demokratischere Energieerzeugung geben, die den Bürgern und Kommunen mehr Einfluss ermöglicht?

Töpfer: Die erneuerbare Energieversorgung der Zukunft wird auf jeden Fall sehr viel dezentraler organisiert sein als unser gegenwärtiges System. Jeder Hausbesitzer kann sich ja sein eigenes Solarkraftwerke auf das Dach montieren lassen. Deshalb könnten alte Modelle ökonomischer Teilhabe, beispielsweise Genossenschaften, einen neuen Aufschwung erleben. Auch die kommunalen Stadtwerke werden wohl eine größere Rolle spielen.

Koch: Betrachten Sie die Arbeit Ihrer Kommission als Bestandteil einer Revitalisierung demokratischer Verfahren?

Töpfer: Wir bezeichnen die Energiewende ganz bewusst als „Gemeinschaftswerk“. Dieses wird nur gelingen, wenn möglichst viele Bürger und Interessengruppen daran mitwirken. Die Politik sollte die Bürger künftig stärker einbinden. Das ist eine der ganz großen Konsequenzen der vergangenen Monate. Heiner Geissler hat mit der Schlichtung zum Bahnhof Stuttgart 21 hier einen Meilenstein gesetzt.

Koch: Sollen die Bürger nur mitreden, oder werden sie auch mitentscheiden können?

Töpfer: Wenn demokratische Mitwirkung initiiert wird, gehe ich davon aus, dass die Politik die Argumente der Menschen auch ernst nimmt. Dies sicherstellen könnte beispielsweise ein neues nationales Forum für die Energiewende. Wir schlagen vor, dass eine solche Institution einen bundesweiten Diskussionsprozess organisiert, der bis in die Regionen und Gemeinden reicht. Ein neuer parlamentarischer Beauftragter für die Energiewende sollte gegenüber dem Bundestag regelmäßig Bericht erstatten, wie weit der Umbau gediehen ist. Allerdings muss immer klar bleiben, wer letztlich entscheidet und deshalb die Verantwortung trägt. In der offenen parlamentarischen Demokratie können dies nur die gewählten Volksvertreter sein.

Bio-Kasten

Klaus Töpfer (72) schwamm 1988 im Neoprenanzug durch den Rhein, um zu zeigen, dass das Wasser okay war. Damals amtierte der CDU-Politiker als zweiter Bundesumweltminister (1987 bis 1994). Von 1994 bis 1998 leitete er das Bundesbauministerium. Zwischen 1998 bis 2006 war er Vorsitzender des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) in Nairobi.