Kommentar
Die Lohnentwicklung in Deutschland sollte Anlass zum Umdenken sein. Denn die Reformen am Arbeitsmarkt, so sinnvoll sie im Grundsatz auch waren, zeitigen eine unerwünschte Nebenwirkung. Es sind zwar viele neue Jobs entstanden und die Arbeitsmarktstatistik fällt so gut aus wie schon sehr lange nicht mehr. Doch der Preis ist für viele Betroffene hoch. Immer mehr Beschäftigte bekommen nur schlecht bezahlte Stellen. Sie sind trotz Arbeit arm dran. Das wäre unter der Bedingung hinnehmbar, dass sie sich beruflich verbessern können und die Löhne mit der allgemeinen Wirtschaftskraft Schritt halten. Das Gegenteil ist der Fall. Die ohnehin kargen Entgelte sinken und die Schere zwischen den gut ausgebildeten Fachkräften und den Ungelernten öffnet sich weiter, sowohl in Bezug auf ihr Einkommen als auch bei den Aufstiegschancen.
Es gibt mehrere Ansätze für eine Korrektur. Ein flächendeckender Mindestlohn kann die Auswüchse am unteren Rand des Arbeitsmarktes eindämmen. Allein können Minijobber oder Hilfsarbeiter keine besseren Bedingungen durchsetzen. Da sich das Geschehen meist im tariffreien Raum abspielt, bleibt nur der Staat als Schutzpatron vor Ausbeutung. Ein zweiter Gedanke wäre die Abkehr von der Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre. Andere Länder zeigen, dass damit auch der Konsum als Stütze der Konjunktur gestärkt wird. Die einseitige Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf den Export hat schon in der Finanzkrise für dramatische Einbrüche gesorgt, als die Weltwirtschaft in Agonie verfiel. Diese Anfälligkeit könnte eine starke heimische Kaufkraft verringern. Drittens schließlich fehlt es an Aufstiegschancen, also Bildungsangeboten, für jene Arbeitnehmer, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nur gering bezahlte Tätigkeiten finden. Heute kann sich kaum jemand aus eigener Kraft aus dem Tal herausarbeiten. Mehr soziale Durchlässigkeit birgt das größte Potenzial gegen Armut trotz Arbeit.