Türsteher der neuen Welt

Die Piratenpartei macht es Bürgern schwer, sich zu engagieren

Der türkische Geschäftsmann mit Sakko und weißem Hemd zweifelt an sich. „Ich komme mir vor wie ein Analphabet.“ Computer sind sein alltägliches Arbeitsgerät, er spricht gepflegtes Deutsch. Aber die Piraten-Partei macht es ihm schwer. Was erzählen ihm die jungen Leute da? „Augenblick, ich kann nicht mithalten,“ ruft er amüsiert in die Runde.

Der Mann brennt darauf, sich in die Politik einzumischen. Deshalb ist er ein paar Tage nach dem sensationellen Wahlerfolg der Piraten in Berlin zu deren allwöchentlicher Versammlung in die Kneipe „Kinski-Klub“ gekommen. Stadtteil Neukölln: draußen Kopfsteinplaster, drinnen schartige Wände ohne Farbe, Sperrmüllmöbel, Flaschenbier. Ein junges Parteimitglied mit verfilztem Haar und Zottelbart erklärt, wie die Piraten funktionieren und überschüttet die Zuhörer mit einem Schwall englischer Internet-Fachausdrücke.

Doch die 25 Interessierten, meistens Männer zwischen 25 und 35 Jahre alt, wollen sich nicht abschrecken lassen. Sie stellen einfache Fragen wie diese: „Wie kann ich mich bei den Piraten beteiligen?“ Und erhalten solche Antworten: „Wenn ein Text im Pad fertig ist, kann man ihn ins Liquid stellen.“ Wie bitte? In der Alltagssprache bedeutet das ungefähr: Die Piraten bieten im Internet verschiedene Diskussionsforen an, auf denen man mitdiskutieren und die Meinungsbildung der Partei beeinflussen kann – wenn man die Internetadresse herausbekommt, die nicht ganz leicht zu finden ist. Einer der Besucher fasst die Lage so zusammen: „Wenn das hier ein Geschäft wäre, bei dem ich etwas kaufen wollte, wäre ich ganz schnell wieder weg.“

Seit einer Woche ist die junge Partei mit 15 Abgeordneten im Berliner Landesparlament – und steht unter Schock. Denn in ihre Computerwelt bricht jetzt die Wirklichkeit ein. Reale Menschen begehren Einlass. Spät abends warten tatsächlich 70 Interessenten vor dem Kinski-Klub.

Zwischen ihnen steht rauchend der 37jährige Alexander Morlang, Neu-Parlamentarier mit Pferdeschwanz, von Beruf Netzwerk-Administrator. Vor 30 Jahren wäre einer wie er bei den Grünen eingetreten. Seine Motivation zu den Piraten zu gehen, beschreibt Morlang so: „Die herrschende Politik versucht, meinen Lebensraum zu zerstören.“ Damit will er sagen, dass er in seinem Beruf Computerprogramme benutzt, die die Polizei als potenziell kriminell einstufe, weil auch illegale Hacker sie verwendeten. Da tanzen ihm die etablierten Vertreter des Staates auf der Nase herum, meint Morlang – auch die Grünen.

Dieser Antrieb ist ein liberaler. Bürger wehren sich gegen den gefühlt übermächtigen Staat. Auch Sebastian Schneider, genannt „Schmiddie“, 26 Jahre, studierter Medienwirt und einfaches Piraten-Mitglied, spürt diese Wurzel. Die Positionierung der Partei beschreibt er als „sozialliberal“. Das Eintreten für die Bürgerrechte verbindet sich für ihn mit dem Motiv der sozialen Gerechtigkeit. „Umverteilung“ ist für Schneider ein ganz wichtiger Punkt. Die Wohlhabenden und Reichen sollen mehr Steuern zahlen, damit die ärmeren Bevölkerungsschichten nicht darben.

Im Berliner Programm der Piraten ist diese Gerechtigkeitspolitik an mehreren Stellen verankert. Die Partei fordert, dass der öffentliche Nahverkehr für alle Nutzer kostenlos sein soll – wobei zur Finanzierung nichts gesagt wird. Außerdem will man sich „mittelfristig“ für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen. Alle Bundesbürger erhielten in dieser Vorstellung eine ausreichende Summe Geldes überwiesen, auch wenn sie nicht bereit sind, irgendeine Gegenleistung an die Gemeinschaft zu erbringen. Komplett unrealistisch? Für Piraten-Parlamentarier Morlang ist entscheidend, dass die Gesellschaft über unausweichliche Fragen zumindest diskutiert. Er sagt: „Das Grundeinkommen bietet einen Lösungsansatz für das Problem, dass wir nie wieder Vollbeschäftigung erreichen werden.“

Solche Positionen vertritt keine andere Partei im Berliner Landesparlament. Ihre linksliberale Radikalität ist das Alleinstellungsmerkmal der Piraten. Vor allem kommt es ihnen darauf an, alte Antworten und feststehende Verfahren in Frage zu stellen. „Wir wollen Demokratie verflüssigen“, sagt Sebastian Schneider. „Der Grundsatz ist: Jeder kann bei uns machen, was er will“. Theoretisch. Praktisch muss man sich erstmal in der neuen Welt der Mailinglisten, Piratenwikis, Squads und Crews zurechtfinden. Dafür braucht man ein Passwort. Das bekommt man zugeschickt, wenn die Systemverwalter die Welle der Neumitglieder abgearbeitet haben. Irgendwann, demnächst. Derweil bricht schon mal der Zentralcomputer zusammen, wegen Überlastung.