Die Rente ist immer noch sicher

Vor 100 Jahren wurde der Sozialstaat mit der Reichversicherungsordnung festgeschrieben

Der erzkonservative Fürst Otto von Bismarck war keineswegs ein Freund der Besitzlosen, als er in Deutschland die Sozialversicherung per Ordre de Mufti, besser de Reichskanzler einführte. „Mein Gedanke war, die arbeitende Klasse zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, der ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“, begründete Bismarck die Einführung der Krankenversicherung für Arbeiter im Jahr 1883. So verräterisch dürfte sich heute kein Vertreter der wirtschaftlichen Eliten mehr äußern. Befriedet hat es die Arbeiterschaft nicht. Der Klassenkampf tobte weiter. Mit dem Zuckerbrot der sozialen Sicherung in der einen und einer repressiven Politik gegen die Sozialdemokratie auf der anderen Seite regierte Bismarck mit eiserner Hand weiter.

Die formale Geburtsstunde des Sozialstaates in Deutschland ließ noch Jahrzehnte auf sich warten. Am 19. Juli 1911, also vor fast genau 100 Jahren, fanden sich die einzelnen Versicherungen zusammen in einem Gesetzbuch, das weltweit Anerkennung fand und findet. Arbeitnehmer und Angestellte sind damit gegen Krankheit und Unfälle am Arbeitsplatz abgesichert, können eine Rentenzahlung erhoffen. „Das hat die soziale Lage der Arbeiter verbessert“, stellt der Bremer Politikprofessor Frank Nullmeier vom Zentrum für Sozialpolitik fest. In den Anfängen spielte die Rentenversicherung kaum eine Rolle, weil kaum ein Arbeiter alt wurde. Dafür war die Unfallversicherung umso wichtiger, waren doch die Arbeitsschutzbedingungen in den Betrieben miserabel. 1927 kam die Arbeitslosenversicherung dazu und seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auch die Unterstützung von Pflegefällen.

Perfekt ist kein Zweig des Sozialstaats je gewesen und wird es wohl auch nie sein. Kassenpatienten klagen über eine Mehrklassenmedizin und Rentner über eine sinkende Kaufkraft. Doch im historischen Rückblick zeigt sich der enorme Wert dieses Sozialsystems. Es hat die Hyperinflation von 1923 ebenso überdauert wie zwei Weltkriege. Unter den Nazis wurde es gleichgeschaltet. In der DDR ging die Versicherung, obgleich sie zunächst auch an Beitragszahlungen geknüpft war, mehr und mehr im allgemeinen Steuersystem auf. Am Prinzip hat niemand gerüttelt, über die Leistungen und die Finanzierung wurde und wird dagegen immer wieder neu diskutiert.

Die Idee basiert auf einer gemeinsamen Beteiligung der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber an den Kosten von Krankheit, Alter oder Unfällen und Arbeitslosigkeit. Beide Seiten bezahlen die Beiträge, mit denen die laufenden Ausgaben finanziert werden. Das ist auch das Geheimnis, dass dieses System auch gegen schwerste Krisen wappnet. „Wenn der Krieg vorbei ist, kann man wieder Geld einzahlen und es funktioniert wieder“, erläutert Nullmeier. Da die einzelnen Kassen Vermögen nur zum Ausgleich von Einnahmeschwankungen vorhalten, können weder inflationäre Entwicklungen noch Währungsschnitte dem System etwas anhaben.

Wie das funktioniert, lässt sich leicht am Rentensystem verdeutlichen. Die Beiträge der heutigen Arbeitnehmer für die gesetzliche Altersvorsorge werden nicht angespart und dann im Alter von ihnen wieder abgerufen. Vielmehr bezahlen die heutigen Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen die Renten der heutigen Rentner. Reichen die Einnahmen nicht aus, steigen die Beiträge für die Rentenversicherung. Die nächste Generation muss dann wiederum mit ihren Beiträgen die Ruhegelder der künftigen Rentner bezahlen. So geht es immer weiter.

Wie das geschieht und welche Leistungsfähigkeit eines der Systeme hat, bestimmt nicht der Staat, sondern die Selbstverwaltung aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dieses Prinzip wird allerdings zunehmend außer Kraft gesetzt. Längst greift der Staat lenkend ein und gibt Ziele vor. So soll der Rentenbeitrag in diesem Jahrzehnt nicht über 20 Prozent ansteigen. Damit dies möglich wird, wurden die Renten gekürzt und die Lebensarbeitszeit verlängert. Auch trägt der Staat mittlerweile erheblich zur Finanzierung der Sicherungssysteme bei. Ohne Steuerzuschuss in Milliardenhöhe könnte der Sozialausgleich für die Zusatzbeiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zum Beispiel gar nicht finanziert werden. Auch die Rentenkasse wird mit vielen Milliarden aus der Staatskasse zusätzlich gefüttert. Die Teilfinanzierung durch den Finanzminister hat den Vorteil, dass auf diese Weise auch Beamte, Selbständige und Reiche an den Kosten des Sozialstaats beteiligt werden, statt sie allein auf die Arbeitskosten draufzuschlagen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Firmen so zu schmälern.

Trotzdem mussten die einzelnen Systeme immer wieder reformiert werden, damit sie zukunftstauglich bleiben. Nicht immer wurde dies in der Bevölkerung mit Nachteilen für die Versicherten gleichgesetzt. Die große Rentenreform Konrad Adenauer 1957 brachte den Arbeitnehmern höhere und regelmäßig steigende Renten. Damals wurde das heute noch geltende Umlagesystem eingeführt. Die letzten großen Rentenreformen bescherten den Versicherten dagegen faktisch eine Rentenkürzung. Den die Rente mit 67 bedeutet längerer Beitragszahlungen und weniger lange Bezugszeiträume. Außerdem wird durch Abschlagsformeln das Rentenniveau langsam abgesenkt. Nullmeier zufolge ist das System damit zukunftssicher. „Beim Renteneintrittsalter über 67 Jahre hinaus zu gehen, ist unnötig“, glaubt der Forscher.

Probleme erkennt der Experte eher in zwei anderen Sparten der Sozialversicherung. In der Pflegeversicherung müssten die Beiträge steigen, sagt der Bremer, weil die Pflegebedürftigkeit mit der alternden Gesellschaft zunehme. Und in der Krankenversicherung seien die ineffiziente Organisation sowie der echte oder vermeintliche technische Fortschritt kostentreibend.

Insgesamt ist das soziale System in Deutschland trotz aller Schwierigkeiten auch für die nächsten 100 Jahre gewappnet. Das ist den meisten Menschen jene gut 20 Prozent vom Bruttolohn wert, die die Pflichtversicherungen kosten. Etwas weniger zahlen die Arbeitgeber. Oder um es mit einem mittlerweile geflügelten Wort des früheren Sozialministers Norbert Blüm zu sagen: „Die Rente ist sicher“.