Skepsis gegenüber dem Wirtschaftswachstum

Heute startet im Bundestag die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Brauchen wir einen neuen Maßstab für Wohfahrt?

Viele Bürger und Politiker freuen sich, dass die deutsche Wirtschaft wieder wächst. Nach 3,6 Prozent in 2010 hält Wirtschaftsminister Rainer Brüderle etwa 2,3 Prozent Wachstum in diesem Jahr für möglich – so soll es im Jahreswirtschaftsbericht stehen, der am Mittwoch veröffentlicht wird. Und doch zieht der Bundestag das Prinzip des Wirtschaftswachstum gerade jetzt grundsätzlich in Zweifel.

Am heutigen Montag (17.1.) startet die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Union, FDP, SPD und Grüne sind sich einige darüber, zwei fundamentale Fragen zu stellen. Erstens: Ist eine stabile Entwicklung Deutschlands auch ohne oder mit nur geringem Wachstum möglich? Wie kann außerdem ein neuer Wohlstandsindikator aussehen, der im Gegensatz zum Bruttoinlandsprodukt nicht nur den Euro-Wert der produzierten Güter und Dienstleistungen misst, sondern vielleicht auch mal die Zufriedenheit der Bürger?

17 Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen und 17 von ihnen benannte Wissenschaftler werden sich nun einige Jahre mit diesen gewichtigen Problemen beschäftigen. Woher aber kommt der Impuls, das heikle Thema ausgerechnet jetzt anzugehen? Vermutlich hat es mit der zurückliegenden Wirtschaftskrise zu tun, die auch durch zu schnelles und hohes Wachstum des Finanzsektors entstanden ist. Parteiübergreifend scheinen die Politiker ins Grübeln gekommen zu sein, ob das die Bedeutung des traditionellen Wirtschaftswachstum nicht zumindest relativiert werden muss.

Die Initiative zur Kommission ging von den Grünen aus – mit einem sehr weitgehenden Ansatz. Um die Schäden des Klimawandels zu reduzieren, plädiert die Umweltpartei für einen Richtungswechsel. Reinhard Loske, der grüne Umweltsenator von Bremen, bezweifelt außerdem, dass es ausreiche, die Wirtschaft auf umweltfreundliche Technik umzustellen. Der Mitinitiator der Enquete-Kommission hält ein zumindest teilweises Schrumpfen der Wirtschaft und des Konsums für notwendig. „Wir brauchen eine Veränderung der Kultur und der Lebensstile“, sagt Loske.

So weit will die SPD, deren Abgeordnete Daniela Kolbe den Enquete-Vorsitz übernehmen soll, nicht gehen. Für die Sozialdemokraten steht im Vordergrund einen neuen Wachstumsindikator neben dem Bruttoinlandsprodukt zu entwickeln, der auch den sozialen Wohlstand misst. Das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft sei nach dem Ausbruch der Finanzmarktkrise geschwunden, sagte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. „Die Leute haben ein Gespür dafür, dass da was auseinanderfällt.“ Die Kommission müsse ein neues Navigationssystem suchen, „das nicht mehr einfach nur Bruttoinlandsprodukt heißen kann“, so Steinmeier.

Union und FDP, die sich der rot-grünen Enquete-Initiative angeschlossen haben, sehen die Sache weniger kritisch. Die Idee, einen alternativen Wachstumsindikator zu entwickeln, trägt Schwarz-Gelb zwar mit, ansonsten warnen die Regierungsfraktionen aber davor, dass Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Kommission solle „nicht systemkritisch an der sozialen Marktwirtschaft kritteln“, warnte Georg Nüßlein (CSU). Auch sei Deutschland keine „Öko-Insel“.

Zweifel am Wirtschaftswachstum herkömmlicher Prägung gibt es allerdings auch in anderen Staaten. So hat der französische Präsident Nicolas Sarkozy die Ökonomen Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi beauftragt, einen neuen Wohlstandsindikator entwickelt – das Nettoinlandsprodukt. Dieses geht über den Mengenaspekt hinaus und schließt andere soziale und ökologische Entwicklungen ein.