ZU Besuch im modernsten Logistikzentrum Amazons
Von außen wirkt das grau-blaue Gebäude im Nordosten Erfurts unscheinbar, zumal es an diesem Nachmittag noch nieselt und der Wind kalt von der nahen Autobahn herüberweht. Doch im Innern ist der neueste Stand der Logistik zu sehen. Regale, Roboter, ein ausgeklügeltes Steuersystem und einiges an Chaos helfen dem Online-Händler Amazon hier, schneller und effizienter als die Konkurrenz zu sein.
Der Clou: Die Lagerregale kommen zu den Beschäftigten, die die Bestellungen der Kunden bearbeiten. Früher war es umgekehrt. „Die Technik macht es für die Mitarbeiter einfacher“, sagt Silvana Specht, die den Standort, ERF 1 genannt, leitet. Die Laufwege entfielen im Vergleich zum klassischen Logistikzentrum mit langen Regalreihen. „Das übernehmen die Transportroboter. Die Mitarbeiter arbeiten an festen ergonomischen Arbeitsstationen.“
ERF 1 ist eines von zwölf Robotik-Logistikzentren Amazons in Deutschland und das größte und modernste des Konzerns in Europa. 80.000 Regale und 3600 Roboter auf drei Etagen, dazu insgesamt 15,4 Kilometer Transportbänder, vor allem im Erdgeschoss, wo Waren angeliefert und Pakete versandt werden. Und alles wartet darauf, dass die Kunden in Berlin, Bremen, Dresden Hamburg, Frankfurt, Mainz oder München per Mobiltelefon oder Computer Waren bestellen.
Specht steht auf Etage 2 an einer der Arbeitsstationen. Bildschirm, Scanner, mehrere schwarze Kisten. Und eine Lücke im Zaun, der sich mehr als zwei Meter hoch um den gesamten Innenraum der Etage zieht. Hinter dem Zaun beginnt das Reich der Roboter und Regale, das, was dieses Logistikzentrum so besonders macht. Betreten streng verboten. Der Mensch brächte zu viel durcheinander. Um zu verstehen, was hinter dem Zaun passiert, ist ein kurzer Blick auf die einzelnen Elemente nötig.
Das System: Es ist das Gehirn der Anlage. Es weiß, was wo gelagert ist, steuert die Roboter, passt sich immer wieder an, je nach Bestellungen, neuer Ware, Zahl der Roboter im Einsatz. „Das System organisiert sich selbst“, sagt Ahmad Khan, Bereichsleiter Technik. „Wir Techniker schauen permanent, dass die Technologie funktioniert.“
Die Regale: Sie haben einen quadratischen Grundriss, sind vielleicht 2,5 Meter hoch, auf allen vier Seiten mit Waren gefüllt und stehen auf hohen Füßen. Dicht an dicht reihen sie sich auf der riesigen Fläche innerhalb des Zauns aneinander. Insgesamt knapp 25.000 Stück stehen hier je Etage. Jedes Regal, jedes Fach ist mit einem QR-Code versehen. Vollbepackte Regale können schon mal 450 Kilogramm wiegen.
Die Roboter: Sie ähneln zu groß geratenen Staubsaugerrobotern, sind mit rund 140 Kilogramm aber deutlich schwerer. Amazon hat sie selbst entwickelt. Sie können bis zu 480 Kilogramm heben, auf der Stelle wenden und fahren im Schnitt Tempo 6, nicht ganz zwei Meter pro Sekunde. Die Akkus erlauben gut sechs Stunden Fahrzeit. Und auch die Ladezeit von vier Minuten von 30 auf 80 Prozent zeigt, dass die Geräte nur entfernt mit Saugrobotern zu tun haben. In Erfurt sind sie seit Anfang Mai im Einsatz, als ERF 1 offiziell eröffnet hat.
Die Lagerflächen: Hier stehen die Regale in Blöcken. Dazwischen gibt es lange freie Straßen, sogenannte Highways, Autobahnen, auf denen die Roboter die Regale durch die Halle transportieren können. Auf je gut acht Fußballfeldern Fläche lagern auf den Etagen 1 bis 3 Waren, selbst mit einem Blick entlang eines Highways ist die Größe nicht zu begreifen. „Das ist wie ein ganz großes Schachbrett, auf dem jedes Feld einen QR-Code hat“, sagt Khan. Die quadratischen Codes sind auf den Boden geklebt. „So weiß der Roboter immer, wo er ist.“ Die Struktur wandelt sich ununterbrochen, weil die Roboter Regale abholen, umparken, abstellen. Nur das System hat einen Überblick.
Wie kommen die Waren in die Regale? Im Erdgeschoss liefern Lastwagen große Pakete an. Sie werden ausgepackt, die Waren in schwarze Plastikkisten gelegt. Alles, was in ERF 1 eingelagert wird, ist höchstens so groß wie eine Microwelle, meist kleiner. Für Waschmaschinen oder Staubsauger sind andere der insgesamt 23 deutschen Amazon-Logistikzentren zuständig. Ein Transportband bringt die schwarze Kiste – insgesamt sind rund 40.000 hier im Einsatz – nach oben zu einer Arbeitsstation. Dort fährt ein Roboter ein Regal an der Lücke vor. Die Mitarbeiterin an der Station scannt den Artikel, legt ihn ins Fach, scannt den QR-Code des Faches. Jetzt weiß das System, wo der Artikel ist. Der Roboter taucht mit dem Regal dezent pfeifend in die Tiefe der Etage ab.
Eingelagert wird nach dem Prinzip Chaos. „Da kann Zahnpasta zwischen Plüscheinhörnern und einem Wasserkocher liegen“, sagt Standortleiterin Specht. Und: Die gleiche Zahnpasta könne an unterschiedlichen Stellen in mehreren Etagen lagern. „So sind wir schneller, als wenn die Zahnpasta an einem einzigen Ort in Etage 2 läge.“ Die Wege wären dann länger, manche Bestellungen nur mit Waren aus verschiedenen Etagen zu bestücken. Auch das kostet Zeit.
Bestellt jemand jetzt ein Plüscheinhorn und einen USB-Stick, läuft sehr vereinfacht Folgendes: Das System nimmt die Bestellung an. Es weiß, in welchen Regalen auf welcher Ebene die Kuscheltiere liegen und wo sich USB-Sticks befinden. Es stellt fest, welches der Regale bald frei steht und abholbereit ist. Es schickt zwei Roboter los, die pfeifend einen Highway entlangflitzen, an den richtigen Ecken abbiegen, unter die Regale fahren, sie anheben und dann zu einer Arbeitsstation bringen.
Zum Beispiel zu der auf Etage 2, an der Standortleiterin Specht steht. Dort erscheint der Auftrag auf dem Computerschirm. Das Regal fährt vor, das Fach mit dem Plüscheinhorn wird beleuchtet. Der Mitarbeiter an der Station nimmt das Tier, scannt es und legt es in die zum Auftrag gehörende schwarze Kiste. Dann kommt das zweite Regal mit dem Stick. Nehmen, scannen, ab in die Kiste, die dann per Band zur Packstation ins Erdgeschoss fährt. Die Roboter parken derweil die Regale irgendwo im System.
Ganz ohne Menschen geht es also nicht. 2000 Beschäftigte aus 70 Nationen arbeiten hier. Gearbeitet wird in zwei Schichten von 9 bis 5 Uhr, vier Tage die Woche bei 40 Stunden. In den Morgenstunden pausieren auch die Roboter und Transportbänder, wird das System gewartet. Jetzt in der Vorweihnachtszeit allerdings surrt, pfeift und brummt es rund um die Uhr, helfen 150 Studenten aus, die Bestellmenge zu bewältigen.
Einmal von Hand eingepackt, laufen die Pakete im Erdgeschoss über Bänder, werden automatisch mit Adresse beklebt und nach Postleitzahlen vorsortiert. Zum Schluss werden sie in Container verladen. Rund 500.000 Artikel verlassen täglich ERF 1. Lastwagen bringen die Container in ein Amazon-Verteilzentrum. Und von dort aus wird dann zugestellt – persönlich.