"Wir brauchen den kinderzentrierten Sozialstaat"

Brandenburgs Sozialstaatssekretär Wolfgang Schroeder plädiert für eine Neuorientierung der sozialen Sicherung. "Familien mit 150.000 Euro Jahreseinkommen benötigen kein Kindergeld". 100 Jahre Reichsversicherungsordnung

Hannes Koch: Was bedeutet es für Sie persönlich, in einem Sozialstaat zu leben?

Wolfgang Schroeder: In der Situation einer schweren Krankheit beispielsweise kann ich mich darauf verlassen, dass die Krankenversicherung die hohen Kosten übernimmt, die mich alleine überfordern würden. Unser Sozialstaat besteht aber aus mehr als der Sozialversicherung für Krankheit, Pflege, Rente und Arbeitslosigkeit. Hinzu kommen die sozialen Dienste, die unter anderem als Reaktion auf den Strukturwandel der Familien stark wachsen. Während es in den 1950er Jahren in Deutschland etwa 8.000 Kindergärten gab, sind es jetzt 47.000. Die dritte Säule bilden die Regelung der Arbeitsbedingungen und die Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmen und Beschäftigten.

Koch: Wenn man die öffentlichen Debatten verfolgt, kann man den Eindruck gewinnen, dem deutschen Sozialstaat gehe allmählich die Puste aus. Stimmt das?

Schroeder: Nein, aber es gibt ein paar Herausforderungen. Die Finanzierung der sozialen Sicherheit basiert bei uns primär auf der Erwerbsarbeit. Wer arbeitet, zahlt Sozialbeiträge und Steuern. Wegen der noch immer hohen Arbeitslosigkeit fließt jedoch zu wenig Geld an die Sozialversicherung. Und auch die rund acht Millionen Menschen, die mit niedrigen Löhnen zurechtkommen müssen, zahlen nur geringe Beiträge.

Koch: Welche Rolle spielt die Alterung der Gesellschaft?

Schroeder: Mehr Leistungsempfängern stehen weniger Beschäftigte gegenüber, die Beiträge zahlen. Das ist eine Folge des demografischen Wandels. Allerdings sollten wir vor diesem auch keine allzu große Angst haben. Wir haben bereits gelernt, damit zu leben. Schon seit 1876 sinkt die Geburtenrate in Deutschland, wenn man von der Ausnahme nach dem 2. Weltkrieg absieht.

Koch: Die Bundesregierung argumentiert, das bisherige Leistungsniveau in der Kranken- und Rentenversicherung sei nicht mehr bezahlbar und müsse künftig in Richtung einer Basissicherung absinken. Ist dieser Weg unausweichlich?

Schroeder: In der Gesundheitsversorgung bringt der medizinische Fortschritt ständig neue Heilmethoden, Medikamente und Geräte hervor. Das ist teuer. Wenn man diese neuen Therapien allen Bürgern zugute kommen lassen wollte, müsste man die Beiträge erhöhen. Die zweite Möglichkeit besteht darin, bestimmte Leistungen auszuklammern. Deutschland beschreitet einen Mittelweg.

Koch: Haben wir uns darauf einzustellen, dass unsere Lebensrisiken künftig weniger abgesichert sind als heute?

Schroeder: In manchen Bereichen ist damit zu rechnen. Gegenwärtig haben wir die geringste Altersarmut in der deutschen Geschichte. Das wird nicht so bleiben. Arbeitslose, Niedriglöhner, aber auch manche Angehörige der Mittelschicht werden später sehr niedrige Renten erhalten. Das Versprechen, den Lebensstandard im Alter zu sichern, kann der Sozialstaat nicht mehr gegenüber allen einhalten. Wenn man diese Entwicklung mildern wollte, müsste man mehr Geld ins System stecken — nicht mittels höherer Sozialbeiträge, wohl aber durch Steuern.

Koch: Für insgesamt weniger soziale Sicherheit müssen die Bürger also künftig mehr zahlen?

Schroeder: Nicht unbedingt. Die Sozialquote, der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt, liegt seit Jahrzehnten stabil bei etwa 30 Prozent. Sie braucht auch künftig nicht zu steigen. Weil aber der Sozialstaat in einem permanenten Wandel begriffen ist, müssen auch wir uns wie jede Generation überlegen, welche Prioritäten wir setzen. Ich halte es beispielsweise für überflüssig, rund 800 Millionen Euro Kindergeld an Familien auszuschütten, die über ein jährliches Haushaltseinkommen von mehr als 150.000 Euro verfügen.

Koch: Sie plädieren nicht für ein Zurückschrauben, sondern eine Neuorientierung des Sozialstaates?
Schroeder: Ich meine, es sollte in Richtung eines kinderzentrierten, vorsorgenden Sozialstaates gehen. Gerade, weil die Zahl der Kinder abnimmt, darf kein junger Mensch zurückgelassen werden. Wir brauchen dringend verstärkte Investitionen in möglichst optimale Ausbildungen. Das Bildungspaket im Rahmen des Hartz-IV-Kompromisses ist nur ein ganz kleiner Anfang. Ein zweites wichtiges Feld ist die Integration von Einwanderern und ihren Nachkommen.

Koch: In den vergangenen 150 Jahren wurde der Sozialstaat auch erkämpft. Wer macht sich heute für ihn stark?

Schroeder: In unserer starken Bürgergesellschaft ist das Nachdenken über die Weiterentwicklung des Sozialstaates sehr lebendig. Dass liegt auch daran, dass die allermeisten Bürger die soziale Sicherheit sehr schätzen, die sie in Deutschland genießen. Ich glaube, wir haben hier einen Konsens darüber, dass der Sozialstaat grundsätzlich einen Superjob macht – trotz allen Streits um die Hartz-Reformen.

Wolfgang Schroeder (51) arbeitet als Staatssekretär im Brandenburgischen Ministerium für Arbeit und Soziales. Der Sozialstaatsexperte ist von seiner Politik-Professor an der Universität Kassel beurlaubt und sitzt in der Grundwerte-Kommission der SPD.

100 Jahre Reichsversicherungsordnung

In diesen Tagen vor 100 Jahren beschloss der Reichstag die Reichsversicherungsordnung. Darin wurden erstmals die Kranken-, Renten- und Unfallversicherung in einem Gesetz zusammengefasst. Diese Sozialversicherung bildet noch eine der drei Säulen des Sozialstaates – neben den sozialen Diensten wie Caritas und Diakonie, sowie der Sozialpartnerschaft in der Wirtschaft.